Mittwoch, 12. Oktober 2022

Die größte Kunst


 

Was ist die größte Kunst auf Erden?

Mit frohem Herzen alt zu werden,

zu ruhen, wo man schaffen möchte,

zu schweigen, wo man ist im Rechte;

zu hoffen, wo man am Verzagen,

gehorsam still sein Kreuz zu tragen

und neidlos andere zu sehn,

die rüstig Gottes Wege gehen.

Die Hände in den Schoß zu legen

und sich in Ruhe lassen pflegen

und, wo man sonst gern hilfreich war,

sich nun in Demut machen klar,

daß uns die Schwachheit überkommen,

wir nichts mehr sind zu andrer Frommen,

und dabei still und freundlich doch

zu gehn im gottgesandten Joch.

Was kann uns diesen Frieden geben?

Wenn wir des festen Glaubens leben,

daß solche Last, von Gott gesandt,

uns bilden soll fürs Heimatland,

ein letzter Schliff fürs alte Herz,

zu lösen uns von allem Schmerz

und von den Banden dieser Welt,

die uns so fest umfangen hält.

Die Kunst lernt keiner völlig aus,

drum gibt 's noch manchen harten Strauß

in alten Tagen durchzukämpfen,

bis wir des Herzens Unruh' dämpfen

und willig uns ergeben drein,

in stiller Demut nichts zu sein.

Dann hat uns Gott nach Gnadenart

die beste Arbeit aufgespart:

Kannst du nicht regen mehr die Hände,

kannst du sie falten ohne Ende,

herabziehn lauter Himmelssegen

auf all die Deinen allerwegen;

und ist die Arbeit auch getan,

und naht die letzte Stund' heran,

von oben eine Stimme spricht:

"Komm, du bist mein; ich laß dich nicht!"


© Elise Averdieck (1808-1907)