Dienstag, 15. September 2015
ironisches Gedicht von J. Trojan (1837-1915)
Die vergessliche Witwe
Es starb ein Mann, vom blassen Tod
gefällt mit grimmen Streiche,
die Witwe fuhr in Herzensnot
nach Gotha mit der Leiche,
wo diese auf bekannte Art
dem Feuer übergeben ward.
So wie die Inderin es tut,
von ihrem Schmerz bezwungen,
wär' gern die Gattin in die Glut
dem Gatten nachgesprungen,
sie wollt' es tun, da hielt zum Glück
man noch rechtzeitig sie zurück.
Nachdem der Leib nun ward verbrannt
dort nach des Mannes Willen,
da ließ, was sich an Asche fand,
in einen Krug sie füllen.
Der sollt', um oft ihn anzusehn,
daheim auf ihrem Schreibtisch stehn.
Drauf mit dem Krug ging sie zur Bahn,
nach Haus ihn mitzunehmen;
Erbarmen fühlten, die sie sahn
in ihrem Leid und Grämen.
Das Herz brach ihr beinah vor Weh,
der Krug kam mit ihr ins Coupé.
Sie sah ihn immer wieder an
und konnte sich nicht fassen.
"Ach, warum hast du, teurer Mann",
so rief sie, "mich verlassen?"
Die Tränen rannen wie ein Bach,
so weinte sie dem Toten nach.
Am Anfang war sei ganz allein
mit ihrem bittren Leide,
dann stieg ein Fahrgast zu ihr ein
zum großen Glück für beide.
Ein angenehmer junger Mann,
der fing mit ihr zu sprechen an.
Sie sprachen eifrig hin und her
von viel verschiednen Dingen;
die Witwe weinte bald nicht mehr,
sie wusst' sich zu bezwingen.
Zuletzt ging über ihr Gesicht
ein Lächeln hin wie Sonnenlicht.
Sie stiegen aus in einer Stadt,
der Mann und sie, indessen
die tiefberührte Witwe hat
etwas im Zug vergessen.
Fort war sie, und der Aschenkrug
allein fuhr weiter in dem Zug.
So rasch zwang sie Gott Amors Macht
den neuen Freund zu lieben,
dass sie erst spät des Krugs gedacht,
der im Coupé geblieben.
"Nein", rief sie unter Lachen, "nein,
wie kann man so vergesslich sein."
(Johannes Trojan, 1837-1915)