Dienstag, 29. September 2015

Erzählung von Margarete Müller



Irgendwo blüht eine Wiese, eine wundervoll grüne Wiese im Goldsonnenschein. Ein schmales Weglein führt durch die Wiese. Daran blühen Glockenblümchen. In Trüpplein stehen sie zusammen wie wartende Kinder, und ihre blauen Glöckchen schwingen leise im Sommersonnenwind. In der Wiese jubelt der rote Klee und die weißen Margeriten sind sonnenoffen. Goldsternchen leuchten. Dazwischen stehen die stillen, blassen Kerzen des Wegerichs. Wie ein Fest ist die Wiese, wie ein großes stilles Freuen in ihrer Sonneneinsamkeit. Kein Ton der lauten Zeit stört die Stille. Hinter Bergen verborgen und tiefen, dunklen Wäldern träumt sie ihren stillen, sel'gen Sonnentraum. Ein Muttergotteskapellchen steht auf der Wiese, so klein, dass es nur eben das Bild der Gebenedeiten fasst. Die Türe zum Kapellchen ist allzeit offen. Da sitzt sie, die Holdselige, in ihrem blauen Gewande und hat ihr Kindlein an der Brust, und die blonden Haare legen sich wie ein schwerer goldner Mantel ihr um die Schultern. Ein kleiner, blauer Sternenhimmel ist über ihr. Aber zu ihren Füßen schmiegt sich die Wiese mit den Goldsternchen, wie ein Teppich, grün und goldbestickt. Ein Wandervogel kommt des Wegs daher. Sein Herz ist freudenoffen. Die Laute hängt ihm am grünen Bande über den Rücken. Wie er das Muttergotteskapellchen sieht und darin das Bild der lieben Frau, schreitet er leise über den goldbestickten, grünen Teppich und setzt sich auf die steinerne Stufe zu ihren Füßen. Seine schlanken Knabenfinger greifen in die Saiten. Weich und träumerisch klingt ein altes Marienlied über die Wiese, dass die Blumen lauschen. Von einer tiefen Not singt das Lied.

"Meerstern, ich dich grüße. O Maria hilf! Maria, hilf uns allen in unsrer tiefen Not! Gib ein reines Leben, sich're Reis' daneben. O Maria hilf! Maria, hilf uns allen in unsrer tiefen Not!"

Schwermütig weich, von einer tiefen, wehen Sehnsucht getragen und doch voll wundersamer Süße, ist das Lied. Was weiß der Knab' von tiefer Not?
Ein Weggesell kommt das Wiesenweglein, bestaubt und wandermüd. Er steht still und lauscht und faltet leise seine Hände.

"Woher hast du das Lied, Knabe?" fragt er, als die Töne verklungen sind, nach einem kleinen Weilchen der Andacht.
"Es kommt im Zupfgeigenhansl und ist ein altes Wallfahrerlied. Wollen Sie es lernen? Es ist wunderschön und passt so herrlich in die grüne Wiese und vor das süße Muttergottesbild."

"Lehr es mich, Knabe, es tut wohl und streichelt eine wunde Seele wie mit Mutterhänden."

Weiter ziehen die beiden Wandrer nebeneinander. Vom Waldsaum herüber klingen noch ein paar Töne und verwehen über der Wiese:

"Maria, hilf uns allen in unsrer tiefen Not!"



(Margarete Müller, veröffentlicht 1922)