Dienstag, 22. September 2015
Ein kurzer Schritt
Ein kurzer Schritt
Der Tod klopft nicht immer an, bevor er eintritt. Er kommt nicht immer langsamen Schrittes hinter seinen Boten her, den Krankheiten und Leiden mancherlei Art. Er kann auch schnell, furchtbar schnell sein. Da fährt er hernieder wie ein Blitz aus blauem Himmel, mitten in das ahnungslose Leben, in die rauschende Luft hinein. Man staunt oft, dass das feine Kunstwerk des menschlichen Körpers soviel aushalten kann; mitunter macht man die erschreckende Wahrnehmung, dass unter Umständen die geringfügigste Kleinigkeit genügt, um das Leben urplötzlich mit einem Schlage stillstehen zu lassen. Vielleicht ist nur ein Äderchen gesprungen - der Mensch sinkt um, wie niedergeschlagen. Unversehens wird er hinweggerafft. Er glaubte noch fern zu sein von der dunklen Pforte, die ins Jenseits führt, da schlägt sie schon hinter ihm zu. Sein Sterben war ein kurzer Schritt.
Der plötzliche Tod hat etwas Erschütterndes. Wenn einer mit eigenen Augen sieht, wie ein Mensch, der kräftig seinen Weg dahinschreitet, auf einmal zusammenstürzt, als hätte der Tod eine heimlich lauernde Fallgrube vor seine Füße gelegt, dann entsetzt sich seine Seele, und es ist ihm zumute, als wanke der Boden unter ihm. Ein Gefühl ängstlicher Unsicherheit kommt über ihn, alles scheint verwandelt, die Dinge, die ihn eben traulich umgeben, zeigen plötzlich ein feindseliges Gesicht, und mitten im Sonnenschein fühlt er einen kalten Hauch. Wer den jähen Tod einmal an seiner Seite gesehen hat, wird den Eindruck nicht leicht wieder los. Er wird kaum einstimmen in das Urteil, das diesen Tod als ein beneidenswertes Los bezeichnet, bloß weil er schnell und schmerzlos ist.
Dass in diesem Umstand ein Vorzug liegt, lässt sich nicht leugnen, und so ist es zu begreifen, dass die Welt, die auf das Äußere sieht, den jähen Tod für wünschenswert hält. Der Christ aber betet in der großen Litanei: "Vor einem jähen, unversehenen Tode bewahre uns, o Herr!" Da stehen die weltliche und die christliche Auffassung schnurstracks gegeneinander.
Wenn der Tod eine Sache für sich wäre, losgelöst von allen Beziehungen, das Ende, worauf das große Vergessen folgt, der Sprung ins Nichts: dann hätte die Welt recht. Dann könnte man höchstens mit Rücksicht auf die Überlebenden den plötzlichen Tod für ein Unglück halten; für den Sterbenden wäre er zweifellos ein Glück, da ihm alles Schwere erspart bliebe. Aber es steht anders mit dem Tode; er ist nicht das Ende, sondern ein Glied in einer Kette, und zwar das wichtige Verbindungsglied zwischen dem Leben und der Ewigkeit. Nicht das ist die große, schwere Frage, ob der Sterbende vorher alles geordnet hat für diese Welt; das ist eine Frage von nebensächlicher Bedeutung, denn das Leben wird sich schon zurechtfinden. Aber war auch alles geordnet für jene Welt, in die der Sterbende hinübertritt, oder war er nicht bereit zur Rechenschaft?
Wir wollen uns immer bereit halten, dann kann auch ein jäher Tod uns nichts anhaben. Doch wer möchte nicht gern vor seinem Hintritte sich sammeln und nochmals einen prüfenden Blick auf das ganze Leben werfen? Wer möchte nicht gern ein Feiertagskleid für seine Seele rüsten, wenn sie zu Gott gehen soll? Hat der Herr es anders bestimmt, sollen wir im Werktagskleide vor ihm erscheinen, mitten aus den Geschäften und Sorgen des Lebens heraus, Staub auf den Schuhen, das Haar verweht vom Winde: Er ist der Herr, sein Wille soll geschehen! Es kommt auch beim jähen Tode viel auf die Umstände an. Es sind Priester am Altare gestorben; da war der Tod wie eine Antwort auf den sehnsuchtsvollen Spruch des Staffelgebetes: "Ich will eingehen zum Altare Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut!" Es sind Personen auf dem Tanzboden gestorben, und wer möchte dort wohl dem Tode begegnen?
Bleiben wir bei unserer Bitte aus der großen Litanei: "Vor einem jähen, unversehenen Tode bewahre uns, o Herr!"
(Augustin Wibbelt 1862-1947)