Sonntag, 27. September 2015
Der verwandelte Tod
Was ist mit dem Tode?
Ist er der unerbittlich grausame Sohn der Sünde, der als Würgengel durch die Welt schreitet, um die beleidigte Majestät des Herrn zu rächen?
Oder ist er ein Gottesengel, ein Bote des Friedens, der es gut meint mit uns in all seiner Strenge?
Die Heilige Schrift bezeugt es: "Durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen." Von der Sünde nimmt er auch seine tiefsten Schrecken: "Des Todes Stachel ist die Sünde." Er ist ein Werkzeug der strafenden Gerechtigkeit. Ja, noch mehr, der Feind unserer Seele, der alles Leben hasst, liebt den Tod als die Frucht der Sünde und als eine Handhabe für seine feindseligen Pläne. Er sucht ihn in seinen Dienst zu ziehen: er soll der verwirrten Seele den Rückweg abschneiden und sie in den ewigen Tod stürzen.
Da kam einer, dessen Hände alles verwandelten, was sie berührten. Er verklärte und heiligte das Leben in seinem ganzen Umkreise. Er adelte die Arbeit, indem er selber mit seinen göttlichen Händen mühsam schaffte; er heiligte die Freude und verwandelte das nüchterne Wasser in fröhlichen Hochzeitswein; er weihte das Leiden durch sein Kreuz, das wie das Holz des Moses die bittere Quelle Mara in süßen Segensborn umwandelte; und zuletzt ergriff er auch den Tod mit der Macht seiner Liebe und gab ihm eine hehre Weihe. Der Tod, der sonst vor niemand scheute, wagte es nicht, an diesen Hohen seine Hand zu legen. Er stand und harrte, ob die milde Stimme ihn etwa rufen werde. Und das geschah: der Herr wollte sterben. Auf sein Geheiß nahte sich der Tod mit zitternden Schritten und streckte zagend seine Hand aus. Der Herr aber umfasste ihn in freiem Entschlusse mit beiden Armen und küsste ihn mit dem Kusse des Friedens. Da wurde der Tod verwandelt, aus dem Würger wurde ein Gottesengel.
Wohl behielt er das Amt der Strafe auch fürderhin, aber seine Schrecken wurden gemildert durch den schimmernden Stern der Hoffnung, den der Herr auf das dunkle Stirnband setzte. Zugleich wurde ihm von der Segenskraft verliehen, die vom Kreuze fließt. Die Strafe sollte auch Buße sein, sühnende, läuternde, vollendende Kraft. So geht nun der Tod verwandelt von Golgatha hinweg, ein dunkler Engel, aber doch ein Engel, mit ernsten Augen und strengen Händen, aber mit einem treuen Herzen, das auf unser Heil bedacht ist. In seinem Becher ist Bitterkeit, die Bitterkeit ist Medizin. So weit das Kreuz reicht, so weit ist auch der Tod dem Einflüsse des bösen Feindes entzogen, und das Kreuz reicht über die ganze Welt, wenn nur die Seele selber sich dem Kreuze nicht entziehen will.
Der Tod hat eine Weihe empfangen von dem sterbenden Erlöser und kann selber Weihe erteilen. Wenn die scheidende Seele mit dem Erlöser verbunden ist in Glauben und Liebe, so gewinnt ihr Tod Kraft und Segen aus seinem Tode. Nun ist auch das Leiden und Sterben des unbewussten Kindes nicht ohne Zeck. Wie die unschuldigen Knäblein von Bethlehem dem Herrn im Sterben unbewusst dienten und dafür die Palme des Martyriums erlangten, so trägt das sterbende Kind nach seiner Kraft mit am Kreuze des Herrn. Wie sollte es nicht auch vom Kreuze Segen empfangen!
(Augustin Wibbelt, 1862-1947)