Mittwoch, 23. September 2015

Grabrede (1864)


Am Grabe eines nicht im besten Rufe Stehenden

"Zum wenigsten ihr, meine Freunde, erbarmet euch mein!" (Hiob 19, 21)

Andächtige im Herrn!

Der stets geschäftige Tod hat wiederum ein Opfer abgefordert und ist als Bote Gottes unter uns erschienen, den verlebten N. N. vor Gottes Richterstuhl zu rufen. Wir, Geliebte, sollen nicht richten, damit auch wir nicht gerichtet werden, wir sollen nicht urteilen, da den Menschen nichts leichter trügt als der Schein. Der Mensch ist nur das, was er vor Gott ist, nicht was er in den Augen der Menschen gilt. Deshalb soll sich niemand über den Lebenswandel eines Verstorbenen ein Urteil erlauben, wie es ja ein uraltes Sprichwort gibt, welches sagt, man solle von den Toten nichts als nur Gutes reden. Welchen Urteilsspruch der Mensch, wenn er tot ist, von Gott zu gewärtigen hat, wissen wir ja nicht, da wir ihm nicht in der Todesstunde ins Herz sehen konnten, ebenso wenig als in den Tagen, da er noch lebte. Was nun unseren Verewigten angeht, so ließ er mich am ....ten dieses Monats rufen und empfing alle den Sterbenden verordneten hl. Sakramente mit der größten Andacht. (Näheres, was lobwürdig sein könnte).

So starb er mit dem unbedingten Vertrauen auf Gott, den Allbarmherzigen. Doch bevor wir von dieser Stätte gehen, zeigen wir, dass, wenn wir Freunde der Verstorbenen sein wollen, wir ihnen ihre liebsten Wünsche nicht versagen dürfen. Nichts tut weher, als wenn ein Freund dem anderen etwas abschlägt. Deshalb klagt Hiob so ans Herz dringend: "Wenigstens ihr, meine Freunde, erbarmet euch mein!" Ein Gleiches rufen uns auch die armen Seelen im Reinigungsorte zu. Wir aber wollen diese Bitte unserer Freunde nicht überhören, und, uns über sie erbarmend, ihnen zu Hülfe kommen. Denn es ist

unsere Schuldigkeit, unseren hingegangenen Freunden zu Hülfe zu eilen, und ist die Ursache, warum wir solches schuldig sind, jedem einleuchtend.

Niemand steht auf der Welt so ganz verlassen, dass er nicht wenigstens einen Verwandten, einen Freund sein eigen nennt. Auch unser verlebter N. N. zählt dessen mehrere (locus amplif. Dessen Eltern Kinder, Kameraden etc.). An diesen ist es nun vor allen, für den Verstorbenen, falls er noch unserer Hülfe bedürftig wäre, zu beten und beizutragen, dass Gott ihm seine Fehler nachlasse und ihn befreie, wenn er noch von Gottes Anschauung sollte zurückgehalten werden. Von diesen rede ich indessen nicht, denn ich bin überzeugt, sie werden für den Verewigten alles tun.

Aber im allgemeinen findet man es oft, dass der Spruch sich bewahrheitet: Aus den Augen, aus dem Sinne. Und das ist unverantwortlich, dass ein Freund dem anderen nicht beispringt in der Not. Ein guter Freund ist in der Welt unser anderes Ich, unser Ratgeber, unser Wohltäter, unser Beschützer und Helfer, er ist dem anderen das, was die Sonne der Erde ist. Ohne Freund ist alles Wirken eine schwere Arbeit, alles Leben eine Qual. Das war für Hiob das Ärgste, dass er erfahren musste, wie selbst seine Freunde ihn in der Not sitzen ließen. Daher er sagt, wenigstens sie sollten als seine Freunde ihre Schuldigkeit tun.

Indessen hat nicht Hiob allein Ursache, zu klagen, auch viele Seelen im Reinigungsorte führen mit Recht diese alte Klage, wie sie von ihren Freunden im Stich gelassen würden. Sie bitten täglich, sie rufen stündlich: "Wenigstens ihr, meine Freunde, erbarmt euch mein!" Zahlet wenigstens ihr für uns, eure nächsten Freunde, zahlet wenigstens ihr, unsere Erben, Brüder, Schwestern, Schulkameraden etc. für uns, was wir noch schuldig sind. Dieser Ruf ertönt ununterbrochen aus jener Welt herüber und verhallt ungehört. Ein Bruder verlässt den anderen, eine Schwester vergisst die andere, Eheleute, die sich ewige Liebe und Treue zugeschworen, wie vergesslich erweisen sie sich zuweilen!

Als Cäsar ermordet wurde, beteiligten sich vielerlei Leute an dem blutigen Werke. Aber nichts schmerzte denselben mehr, als dass Brutus, sein Freund, sein Schütz- und Pflegling, gleichfalls den Dolch gegen ihn erhoben hatte, er, dem er unendlich viel Gutes getan hatte. Schon lag Cäsar in seinem Blute da, als er die brechenden Augen nochmals auf Brutus heftete und die letzte Kraft anwendend sprach: "Auch du mein Sohn Brutus!" Bist auch du unter den undankbaren, treulosen Freunden! Du hättest mir wenigstens beispringen sollen, der du mein Freund warest.

Diesem Cäsar gleicht so manche arme Seele im Fegfeuer; sie seufzet, ächzet und jammert, sie fleht und bittet um Hülfe, um Rettung, um Barmherzigkeit und Trost. Da geht ein undankbarer Sohn oder eine Tochter am Grabe des Vaters oder der Mutter vorbei und spricht nicht einmal das: Herr, gib ihm die ewige Ruhe u.s.f. Wie? Hörest du nicht die Stimme des Toten: Auch du, mein Sohn! Auch du, meine Tochter! Noch ist das Haus, noch das Vermögen, das ihr von mir geerbt habt, in euren Händen, und mein Gedächtnis aus eurem Herzen! Wahrlich, es trifft zu, was der Dichter sagt:

"Viele Befreundete sind 's, die du zählest, so lange du glücklich;
einsam stehst du indes, trübet der Himmel sich zu."

So lange das Glück anhält, magst du überflüssig Freunde haben; wenn sich dagegen der Himmel deines Glückes bewölkt, alsdann wirst du bald allein stehen. Kein Satz ist wahrer als dieser. Klagt ja schon David: "Meine Freunde und Nächsten haben sich gegen mich aufgelehnt und stellten sich; und entfernt halten sich, die mir zunächst waren" (Ps. 37, 12). Unter diesen Verwandten und Nächsten war aber, wie wir wissen, Absolom, Davids eigener Sohn, der boshafter und hinterlistiger Weise den Achitophel, Davids vorzüglichsten Ratgeber, nebst den edelsten Verwandten, Schwägern, Hausgenossen, Kriegsobersten und Bürgern auf seine Seite gezogen hatte. Dass diese ihm abwendig werden könnten, hätte David wohl nie vermutet: deshalb konnte er auch mit vollem Rechte rufen: Auch du, mein Sohn Absolom! -----

Geliebte im Herrn! Wenn in euch ein guter Blutstopfen echter Freundschaft ist, lasset nie und nimmermehr zu, dass eure Freunde aus der anderen Welt euch zurufen, ohne dass ihr sie erhöret! Ach, es ist hart, wenn eine arme Seele gewahren muss, wie ihre nächsten Freunde über dem Schwelgen und Prassen, über dem Spielen und Tanzen ihrer vergessen. Lasset euch dieses, Geliebte, nicht nachsagen, sondern zeiget gegen eure Toten, dass ihr erkenntlich seid, befehlet ihre Seelen täglich Gott in euren Gebeten an. Er ist der Herr, der sich ihrer erbarmen kann und will, sofern er nur demütig von uns um Barmherzigkeit und Gnade angefleht wird.

Nicht richten sollen wir die Toten, sondern beten, beten um so inniger, je mehr etliche Vorlaute Grund zum Richten und Verdammen zu haben glauben; beten um so anhaltender, je weniger Freunde ein Verblichener auf Erden hat. Nicht strafen, sondern verzeihen soll unser Mund, damit auch Gott verzeihe; denn er will gerne vergeben, deshalb hat er uns das herrliche Gebet gelehrt, in welchem wir ihn Vater nennen dürfen, auf dass wir als Kinder mit vollster Zuversicht uns ihm nahen im Gebete. Tun wir dieses auch jetzt und sprechen wir insgesamt für alle verlassenen Seelen, vorzüglich aber für die Seelenruhe des soeben Bestatteten, das übliche Gebet des Herrn aus ganzer Seele: Vater unser ..... Ave Maria .... Amen.


(P. Matthias Heimbach, 1864)