Sonntag, 5. Oktober 2025

Wer du warst und wer du bist


 

Beim Graben einer Grube sah

ein Totenkopf den andern liegen

und rief: "Wer bist du, der so nah

sich darf zu meiner Gruft verfügen?"


"Ich war", sprach er, "ein Ruderknecht,

aß schwarzes Brot, trank aus den Flüssen,

schlief auf der Erde, lebte schlecht,

an Schuh und Kleidern abgerissen,

bis der gewünschte Tod mich fand,

den ich oft inniglich begehret,

der hat mich aus dem Joch gespannt

und mir die Freiheit nun gewähret."


"Gemeiner Kerl! Hinweg von mir!",

schrie ihm der andre Kopf entgegen,

"Nichtswürdiger! Was willst du hier?

Dein Zuspruch ist mir ungelegen.

Entweich' und lass mich stracks in Ruh',

ich bin ein andrer Mann als du.

Ich bin mit Königen verwandt

und nicht aus Pöbelblut entsprossen.

Ich trage Stern und Ordensband,

ich fahr' in prächtigen Karossen,

ich streue Tonnen Geldes aus,

im Keller hab' ich Fässer Wein

aus Ungarn, Welschland und vom Rhein,

auf meiner Tafel sechzehn Essen."


"Ich bin --- ich hab' ---- ach, armer Mann,

ich war, ich hatte, musst du sagen!",

hub hier der Sklavenschädel an.

"Du hast ja nichts mit hergetragen.

Ich seh nicht Stern, nicht Ordensband

für deinen königlichen Stand,

ich seh nicht deine Fässer Wein

aus Ungarn, Welschland und vom Rhein,

ich seh nicht deine Tonnen Geld,

noch deine prächtigen Karossen;

was du besessen und genossen,

blieb alles auf der Oberwelt.

Dort oben war ein Unterschied;

hier sind wir gleicher Herrlichkeit,

hier gleicht dein Schädel jedem Schädel.

Schön sieht wie hässlich, arm wie reich,

dumm sieht wie klug aus, schlecht wie edel,

der Tod macht Hack' und Zepter gleich."



(deutsches Volkslied, Verfasser unbekannt)