München, 18.9.1838
Sonntag, den 16. d. M., als ich kaum zu Mittag gegessen hatte, erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, worin er mir anzeigte, dass meine Mutter Antje Margaretha, geb. Schubart, in der Nacht vom 3ten auf den 4ten um 2 Uhr gestorben sei. Sie hat ein Alter von 51 Jahren sieben Monaten erreicht und ist, was ich für eine Gnade Gottes erkennen muss, nur 4 Tage krank gewesen. 4 Tage ganz leidlich, so dass sie noch selbst aufstehen konnte, den 5ten sehr bedeutend, mit Krämpfen geplagt, die ein Schlagfluss mit dem Leben zugleich (auf sanfte Weise, wie der Arzt sich aussprach) endete. Sie war eine gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in meine eigne Natur versponnen scheint: mit ihr habe ich meinen Jähzorn, mein Aufbrausen gemein, und nicht weniger die Fähigkeit, schnell und ohne weiteres alles, es sei groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen. Obwohl sie mich niemals verstanden hat und bei ihrer Geistes- und Erfahrungsstufe verstehen konnte, so muss sie doch immer eine Ahnung meines innersten Wesens gehabt haben, denn sie war es, die mich fort und fort gegen die Anfeindungen meines Vaters, der (von seinem Gesichtspunkt aus mit Recht) in mir stets ein missratenes, unbrauchbares, wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte, mit Eifer in Schutz nahm, und lieber über sich selbst etwas Hartes, woran es wahrlich im eigentlichsten Sinne des Worts nicht fehlte, ergehen ließ, als dass sie mich preisgegeben hätte. Ihr allein verdanke ichs, dass ich nicht, wovon mein Vater jeden Winter, wie von einem Lieblingsplan sprach, den Bauerjungen spielen musste, was mich vielleicht bei meiner Reizbarkeit schon in den zartesten Jahren bis auf den Grund zerstört haben würde; ihr allein, dass ich regelmäßig die Schule besuchen, und mich in reinlichen, wenn auch geflickten Kleidern öffentlich sehen lassen konnte. Gute, rastlos um Deine Kinder bemühte Mutter, Du warst eine Märtyrin und ich kann mir nicht das Zeugnis geben, dass ich für die Verbesserung Deiner Lage immer so viel getan hätte, als in meinen freilich geringen Kräften stand! Die Möglichkeit Deines so frühen Todes ist meinem Geist wohl zuweilen ein Gedanke, doch meinem Herzen nie ein Gefühl gewesen; ich hielt mich in Hinsicht Deiner der Zukunft für versichert; ich legte an Deine Zustände meinen Maßstab und tat oft nichts, weil ich nicht alles zu tun vermochte. Ich war nicht selten, als ich Dir noch näher war, rauh und hart gegen Dich; ach, das Herz ist zuweilen ebensogut wahnsinnig, wie der Geist, ich wühlte in Deinen Wunden, weil ich sie nicht heilen konnte. Deine Wunden waren ein Gegenstand meines Hasses, denn sie ließen mich meine Ohnmacht fühlen. Vergib mir das, was Du jetzt in seinem Grunde wahrscheinlich tiefer durchschaust, als ich selbst, und vergib es mir auch, dass ich, verstrickt in die Verworrenheiten meines eigenen Ichs und ungläubig gegen jede Hoffnung, die mir Licht im Innern und einen freien Kreis nach außen verspricht, Deinen Tod nicht beklagen, kaum empfinden kann. Diese Unempfindlichkeit ist mir ein neuer Beweis, dass der eigentliche, der vernichtende Tod die menschliche Natur so wenig als Vorstellung, noch als Gefühl zu erschüttern vermag, und dass er eben darum auch gar nicht möglich ist; denn alle Möglichkeiten sind in unserm tiefsten Innern vorgebildet und blitzen als Gestalten auf, wenn eine Begebenheit, ein Zufall, an die dunkle Region, wo sie schlummern, streift und rührt. Auch Klagen, auch Tränen werden Dir nicht fehlen, wenn ich einmal wieder ich selbst bin, und ewig wird Dein stilles freundliches Bild in aller mütterlichen Heiligkeit vor meiner Seele stehen, lindernd, beschwichtigend, aufmunternd und tröstend. Wenn ich an Dich denke, an Dein unausgesetztes Leiden, so wird mir jede Last, die mir das Schicksal auflegt, gegen die Deinige leicht dünken; wenn ich mich Deiner kümmerlichen Freuden erinnere, die Dein Herz dennoch in sanfter Seligkeit auftauen ließen, so werd ich mich nie freudenleer dünken. So wirst du mir noch über das Grab hinaus Mutter sein; Du wirst mir vergeben und ich Dich nimmer, nimmer vergessen!
(c) Friedrich Hebbel (1813-1863)
