Sonntag, 16. November 2025

Seit unser Kindlein schlafen ging ...


 


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist stiller Schmerz in unserm Haus,

der presst uns manchmal Tränen aus ---

Es ist ein Schmerz in unserm Haus,

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist uns die Erde wen'ger wert,

schal alles, was sie uns beschert ---

Die Erde ist uns wen'ger wert, 

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist näher uns die Ewigkeit;

willkommen uns das Flieh'n der Zeit ---

Es ist uns nah die Ewigkeit,

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

durchzieht ein Heimweh unsre Brust,

das heilt nicht mehr, bis wir mit Lust

einst drücken dürfen an die Brust

das Kindlein, das schon schlafen ging.



(c) Karl Eisele, ca. 1900

Wegweiser


 

Was vermeid' ich denn die Wege,

wo die andern Wandrer geh'n,

suche mir versteckte Stege

durch verschneite Felsenhöh'n?


Habe ja doch nichts begangen,

dass ich Menschen sollte scheu'n -

welch ein törichtes Verlangen

treibt mich in die Wüstenei'n?


Weiser stehen auf den Straßen,

weisen auf die Städte zu,

und ich wandre sonder Maßen

ohne Ruh', und suche Ruh'.


Einen Weiser seh' ich stehen

unverrückt vor meinem Blick;

eine Straße muss ich gehen,

die noch keiner ging zurück ...



(c) Wilhem Müller (1794-1827)

Was war ich?


 


War ich ein Falter vor meiner Geburt,

ein Baum oder ein Stern?

Ich habe es vergessen.

Aber ich weiß, dass ich war

und sein werde.

Augenblicke

der Ewigkeit ...



(c) Rose Ausländer (1901-1988)

Donnerstag, 13. November 2025

Weil alles erneut sich begibt

 



Aus dem Dunkel, das lind dich umschließt,

aus dem Nass, das dich nährend umfließt,

mach dich auf, tritt hinaus aus dem Schoß.

Denn das Licht ist so süß und so groß.


Wenn die Wölbung des Schlafes zerbricht,

tritt hinaus in das östliche Licht,

in den Tau, der die Sohlen dir kühlt,

in die Luft, die so blau dich umspült.


Und du fühlst, wie der Atem beglückt.

Die Wiese ist rötlich geschmückt.

Und ein silberner Mittag beglänzt

den Hang, der mit Reife sich kränzt.


Doch bevor noch ein Strahl dich versengt,

hat kühl sich der Schatten verlängt,

und grünlich verfärbt sich der West,

da der Tag seine Gäste entlässt.


Was dich schreckte und scheuchte, vergiss.

Denn die Erde ist treu und gewiss.

Und du weißt dich vom Dunkel geliebt,

weil alles erneut sich begibt.


Und so trittst du vertrauend hinein

in die Nacht, in den Tod, in den Stein,

in den Sand, in den Schiefer, den Ton,

in den Wein, in das Öl, in den Mohn.



(c) Werner Bergengruen (1892-1964)

Dienstag, 11. November 2025

ein und derselbe


 

Darin besteht das Wesen der Tugend,

dass du in Freuden und Leiden

ein und derselbe Mensch bist.



(c) Thomas A. Kempis (1380-1471)

Montag, 10. November 2025

Das Lied des Lebens


 

Flüchtiger als Wind und Welle

flieht die Zeit, was hält sie auf?

Sie genießen auf der Stelle,

sie ergreifen schnell im Lauf:

Das, ihr Brüder, hält ihr Schweben,

hält die Flucht der Tage ein,

schneller Gang ist unser Leben,

lasst uns Rosen auf ihn streu'n!


Rosen, denn die Tage sinken

in des Winters Nebelmeer;

Rosen, denn sie blüh'n und blinken

links und rechts noch um uns her.

Rosen steh'n auf jedem Zweige

jeder schönen Jugendtat.

Wohl ihm, der bis auf die Neige

rein gelebt sein Leben hat.


Tage, werdet uns zum Kranze,

der des Greises Schlaf umzieht

und um sie in frischem Glanze

wie ein Traum der Jugend blüht.

Auch die dunkeln Blumen kühlen

uns mit Ruhe, doppelt süß;

und die lauen Lüfte spielen

freundlich uns ins Paradies.



(c) Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Die Zeit ist hin


 

Die Zeit ist hin, du löst dich unbewusst

und leise mehr und mehr von meiner Brust;

ich suche dich mit sanftem Druck zu fassen,

doch fühl' ich wohl, ich muss dich gehen lassen.

Hier steh' ich nun und schaue bang zurück;

vorüber rinnt auch dieser Augenblick,

und wieviel Stunden dir und mir gegeben,

wir werden keine mehr zusammen leben.



(c) Theodor Storm (1817-1888)

Sonntag, 9. November 2025

Die Kapelle


 

Droben stehet die Kapelle,

schauet still ins Tal hinab,

drunten singt bei Wies' und Quelle

froh und hell der Hirtenknab'.


Traurig tönt das Glöcklein nieder,

schauerlich der Leichenchor;

stille sind die frohen Lieder,

und der Knabe lauscht empor.


Droben bringt man sie zu Grabe,

die sich freuten in dem Tal.

Hirtenknabe, Hirtenknabe,

dir auch singt man dort einmal.



(c) Ludwig Uhland (1787-1862)

Über deinem Grabe ...

 




Blüten schweben über deinem Grabe.
Schnell umarmte dich der Tod, o Knabe.
Den wir alle liebten, die dich kannten,
dessen Augen wie zwei Sonnen brannten,
dessen Blicke Seelen unterjochten,
dessen Pulse stark und feurig pochten,
dessen Worte schon die Herzen lenkten,
den wir weinend gestern hier versenkten.

Maiennacht. Der Sterne mildes Schweigen .....
Dort! Ich seh' es aus der Erde steigen!
Unterm Rasen quillt hervor es leise,
Flatterflammen drehen sich im Kreise,
ungelebtes Leben zuckt und lodert
aus der Körperkraft, die hier vermodert,
abgemähter Jugend letztes Walten
letzte Glut verraucht in Wunschgestalten.

Kränze, wenn du lebtest, dir beschieden ...

Knabe, schlaf' in Frieden!


(c) Konrad Ferdinand Meyer (1825-1898)

In jeder Stunde ...


 


Ein Engel ist ohne Namen.

Aber in jeder Stunde kann es sein,

dass er deinen Namen trägt.



(c) Albrecht Goes (1908-2000)

Samstag, 8. November 2025

Drei Worte


 


Ich kann in drei Worten zusammenfassen, 

was ich über das Leben gelernt habe:


ES  GEHT  WEITER.



(c) Robert Frost (1874-1963)

Freitag, 7. November 2025

Ich werd' dich immer lieben


 

Ganz dicht vor mir ein blüh'nder Heidestrauß,

darunter lehnt dein Bild in schlichtem Rahmen.

Es flüstern meine Lippen deinen Namen,

der mir zum Beten wird tagein, tagaus.


Vielleicht, dass mitternächtens um dein Haus

die Worte weh'n, die meinem Mund entkamen,

wenn wir uns fester bei den Händen nahmen

und heimlich schritten in die Nacht hinaus ...


Ich .... hab' .... dich .... lieb .... Ich werd' dich immer lieben,

wenn auch des Lebens Spiel uns nicht vereint,

und meine Rufe in ein Nichts zerstieben ...


Das ist mir Trost in schmerzzerwühlten Stunden,

dass uns der Seelen tiefstes Lieben eint,

und wir zum Seelenglück den Weg gefunden ...



(c) Wilhelm Ludwig (ca. um 1900)

Für immer dein ...


 

Der Nebel stieg am frischen Morgen

aus herbstlich bunten Feldern auf.

Noch hielt der neue Tag verborgen

den ungeahnten Schicksalslauf.


Im blutrot schimmernden Gewande

betrat die Sonne ihren Thron,

und war die Schönste nun im Lande,

sich selbst genug und höchster Lohn.


So friedlich gab die junge Stunde

sich schöpferisch dem Auge preis,

und trug doch schon des Abschieds Wunde

in ihrem zarten Lebenskreis.


Dass dies dein letzter Morgen würde,

ich ahnte nicht den schweren Schlag,

ich ahnte nichts von jener Bürde,

die schon bereit zum Tragen lag.


Wir wirbelten das Laub mit Füßen,

wir atmeten den Herbstduft ein,

mit dir den Herbsttag zu begrüßen,

nichts konnte wunderbarer sein.


Doch Stunden später sollt' ich schmecken

des Lebens ach so bittre Frucht.

Was jetzt Erinnerungen wecken,

schlüg' ich so gerne in die Flucht ...


Du fielst vor meinen Augen nieder,

ganz plötzlich, ohne Abschiedswort.

Und keine Macht der Welt gab wieder,

was Himmelsmächte trugen fort.


Ich wusst' nicht, was ich denken sollte.

Erstarrt, erfroren ward mein Herz.

Das eine, was nicht enden wollte,

war dieser unbändige Schmerz.


Er wurde milder mit den Jahren,

die Liebe tut ein gutes Werk.

Wie glücklich, unbeschwert wir waren,

nur diesem gilt mein Augenmerk.


Lädt heute mich des Herbstes Stunde

zu sich in ihre Mitte ein,

schleicht sich der Dank aus meinem Munde

für dich, für uns. Für immer dein ...



(c) Bettina Lichtner

Donnerstag, 6. November 2025

Schone mich, Tod



 

Mich aber schone, Tod.

Mir dampft noch Jugend blutstromrot, ---

noch hab' ich nicht mein Werk erfüllt,

noch ist die Zukunft dunstverhüllt ---

drum schone mich, Tod.


Wenn später einst, Tod,

mein Leben verlebt ist, verloht

ins Werk --- wenn das müde Herz sich neigt,

wenn die Welt mir schweigt, ---

dann trage mich fort, Tod.



(c) Gerrit Engelke (1890-1918)

Es ist in allen ...


 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.



(c) Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Lass los ...


 

Wenn du spürst, dass einer geht,

sich aufmacht in die Ewigkeit,

dass ihm der Tod zur Seite steht

und hundert Englein zum Geleit,

will Gott von dir das eine bloß:

Lass los ...


Wenn sacht und leis' die Kraft gebricht,

die Kälte durch den Körper zieht,

allmählich auf dem Angesicht

erleuchtet hell des Himmels Licht,

will Gott von dir das eine bloß:

Lass los ...


Wenn müde schon die Lippen sind,

die Worte nur noch schwach gehaucht,

der letzte Augenblick beginnt,

das Jetzt ins Ewige nun taucht,

will Gott von dir das eine bloß:

Lass los ...


Wenn schon der Abschied greifbar nah,

ein Kuss, ein Händedruck nur bleibt 

in der Sekunde, die noch da,

und die das Wörtchen "Ende" schreibt,

will Gott von dir das eine bloß:

Lass los ...



(c) Bettina Lichtner

Mittwoch, 5. November 2025

Filmzitat





Immer wenn ein Glöckchen klingelt,

bekommt ein Engel seine Flügel.



(c) Filmzitat aus dem Film "Ist das Leben nicht schön?" (1946)

Dienstag, 4. November 2025

Ob sie wohl kommen wird?


 

Möchte wissen, wann ich bald

begraben werde sein,

und auf meinem Grabe steht

ein Kreuzchen oder Stein;


Und man vor Riedgras kaum

das Grab zu sehn vermag,

ob sie wohl kommen wird

am Allerseelentag?


Ob sie den feuchten Blick

wohl senket niederwärts,

ob sie bei sich nicht denkt:

Hier ruht ein treues Herz?


Ob sie um meinen Stein

ein kleines Kränzchen flicht,

ob sie für meine Ruh'

ein Vaterunser spricht?


Gewiss, sie wird wohl kommen,

zu beten bei dem Grab,

sie weiß, dass ich sonst keinen

für mich zum Beten hab'.



(c) Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858)

Den Himmel deutlicher sehen ...


 

Wenn der Herr unseren Lebensbaum schüttelt, so dass die Blätter herunterfallen, was wollte er anderes, als dass wir durch die nun kahl gewordenen Äste deutlicher den Himmel sehen?


(c) Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910)

Sonntag, 2. November 2025

Wir waren eins ...

 



Wir waren eins, wir waren ganz ...

Die Augen voller Liebesglanz.

Dein Lächeln war mein Ankerplatz,

dein Herz wie ein verborgner Schatz.


Wir haben Raum und Zeit geteilt,

an manchem schönen Traum gefeilt,

ein Nummer-Sieben-Wolkenglück ...

Das Wohl des andren stets im Blick.


Einander herzlich zugetan

beschritten wir des Lebens Bahn,

die eine in des andren Hand,

auch gegen jeden Widerstand.


Kein böses Wort, kein rauer Wind.

Ein Taumel, süß und liebesblind.

An jedem Tag, zu jeder Zeit

stand fest das Glück an unsrer Seit'.


Und dann .... der Sonnenuntergang.

Der Tod kam ohne Sang und Klang,

trat plötzlich ein und nahm dich mit

mit eilendem und forschem Schritt.


Noch klingt dein letzter Satz im Ohr, 

noch kommt 's mir wie ein Albtraum vor,

und doch .... der schöne Liebesduft

liegt Abschied winkend in der Luft.


Wie soll ich, kann ich, werde ich 

nun all die Stunden ohne dich

ertragen? Wie? Ich weiß nicht WIE ...

Wir dachten nicht ans Ende. NIE ...



(c) Bettina Lichtner 

Zwischen zwei Rätseln ...


 

Man sagt,

der Mensch ward geboren und starb.

Damit sagt man:

Zwischen zwei Rätseln wandelte ein drittes.



(c) Hiernonymus Lorm (1821-1902)

Samstag, 1. November 2025

Über dem allen ...


 

Über dem allen leuchten die Sterne,

ziehen still ihre ewige Bahn;

blicken aus unermesslicher Ferne

nieder auf Erdengewirre und Wahn.


Über dem allen leuchten die Sterne,

und ihr goldenes Auge spricht:

Menschenseele, sieh auf und lerne,

auch die dunkelste Nacht hat ihr Licht !



(c) Alida Pannenborg (1882-1943)

Meiner Mutter

 



Wie oft sah ich die blassen Hände nähen,

ein Stück für mich --- wie liebevoll du sorgtest !

Ich sah zum Himmel deine Augen flehen,

ein Wunsch für mich --- wie liebevoll du sorgtest !

Und an mein Bett kamst du mit leisen Zehen,

ein Schutz für mich --- wie sorgenvoll du horchtest !

Längst schon dein Grab die Winde überwehen,

ein Gruß für mich --- wie liebevoll du sorgtest !



(c) Detle von Liliencron (1844-1909)

Ihr Trauernden, stillet die Tränen


 

Ihr Trauernden, stillet die Tränen

und hemmet das Jammern und Sehnen!

Wer wollte verzagend erbeben?

Das Grab ist das Tor zu dem Leben.


Mag irdische Hülle zerfallen,

mag irdische Freude verhallen,

mag Staub sich gestalten zum Staube;

hoch über ihm jauchzet der Glaube.


Hoch über den Gräbern, da thronet

das Licht und das Leben; da wohnet,

vom Leibe des Todes geschieden,

vollendet der Pilger in Frieden.


Da scheiden nicht bittere Schmerzen

die heilig verbundenen Herzen.

Was hier noch die Liebe beweinet,

ihr droben verkläret erscheinet.


O, lasst uns die Häupter erheben!

Dem Tode entquillet das Leben.

Erst endet der Schlummer die Sorgen,

dann folget der ewige Morgen.


(c) nach Aurelius Prudentius (ca. 348-405)

Freitag, 31. Oktober 2025

Das kleine Leben


 

Sieh doch nur, das kleine Leben,

das hier Großes hat gegeben, 

hat die Hürde überwunden

und sich von der Zeit entbunden.


Sieh doch nur, was es geleistet !

Niemals hat es sich erdreistet,

sich gar selber zu erhöhen

und im Mittelpunkt zu stehen.


Sieh doch nur, wie 's Freude brachte,

immer an die and'ren dachte.

Jedem hat 's sein Herz gegeben,

dieses ach so kleine Leben.


Sieh doch nur, wie 's sich mit Liebe

um manch' Seele, die so trübe,

sorgte und ihr Trost gewährte

wie ein treuer Weggefährte.


Sieh nur, wie die dunklen Farben

unter seinem Lächeln starben,

weil dies' kleine helle Leben

ihnen Sonnenschein gegeben.


Sieh doch nur die guten Taten,

die wie tapfere Soldaten

durch des Lebens Zeit marschierten

und so manches Herz berührten.


Ach und sieh doch nur: am Ende

legte es in Gottes Hände

seine Zeit mit Dank und Loben,

und dann flog es leis' nach oben ...



(c) Bettina Lichtner 

Donnerstag, 30. Oktober 2025

Genug gesät


 

Und ich verstand Gott nicht,

warum er seines Dieners Leben,

das mit sonderlicher Kraft

im heil'gen Dienst geschafft,

so früh zerbrochen,

bis mir das Dunkel wurde licht,

da ich mit einem Freund des Heimgegangenen gesprochen.

Der sagte nur:

"Gott ruft wohl nie zu früh und nie zu spät.

Geh ich auf dieses Mannes Spur,

denk ich, er hat genug gesät."

--- Genug gesät ! Ich wurde fröhlich still,

weil meine Seele Gott verstand.

Ich weiß nun, dass ich auch nichts Lieb'res will,

als das, ruft Gott mich frühe oder spät,

es heißen darf von meiner Hand:

"Sie hat genug gesät."



(c) Marie Feesche (1871-1950)

Die Lebensuhr

 



Als du jung warst, lag oftmals die kürzeste Zeit

vor dir wie eine Ewigkeit;

heißes Erwarten und stürmendes Sehnen

ließen die Stunden wie Jahre sich dehnen. ---

Nun da du alt bist, wirst du mit Staunen gewahr,

wie im Fluge entschwindet Jahr um Jahr;

bald hat wohl der Zeiger die Runde vollbracht;

ehe du denkst, schlägt es Mitternacht.


Stellt jetzt, am Ziel deiner Lebensreise,

der Meister die Uhr schon nach seiner Weise?

Spürst du im engen Kreis der Zeit

schon das große Schreiten der Ewigkeit?

Ahnst du schon den künftigen Glockenschlag:

"Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag"?



(c) Anna Kleedehn, ca. 1930

Mittwoch, 29. Oktober 2025

Hiob 2, 10


 

Hiob 2, 10


Sollen wir das Gute aus Gottes Hand annehmen, das Schlechte aber ablehnen?


So sanft und so leis'

 



Wir ahnten dein Kommen, o traurige Stunde.

Du warst eine Frage der Zeit.

Du nahtest so sanft und so leis', und im Grunde

befreitest du jegliches Leid.


Die Schmerzen, die tapfer, geduldig ertragen,

sie haben dich heimlich ersehnt,

geschwächt von beladenen, klagenden Tagen,

die scheinbar sich endlos gedehnt.


Und wenn auch die Hoffnung so lange regierte,

die Zuversicht blühend sich gab,

so war 's doch der Tod, der die Wegbahnen führte

mit seinem so sicheren Stab.


Gefeilscht um Momente, um jede Sekunde,

um jede so kostbare Freud'. 

Wir ahnten dein Kommen, o traurige Stunde,

du warst eine Frage der Zeit.



(c) Bettina Lichtner

Das Entscheidende


 

Nicht das Freuen, nicht das Leiden

stellt den Wert des Menschen dar.

Immer nur wird das entscheiden,

was der Mensch dem Menschen war.



(c) Johann Ludwig Uhland (1787-1862)

Montag, 27. Oktober 2025

War 's auch auf Erden, ach, so schön


 

Ich seh' den Tod durch die Straßen eilen,

dann wieder hier und dort verweilen,

von einem Hause zum andern

seh' ich ihn langsam wandern.

In die Fenster blickt er im Vorübergeh'n,

ob jemand ihn rufe will er seh'n.

Dort sieht er Hände sich betend einen,

dort sieht er Eltern, --- dort Kindern weinen ---,

doch niemand ruft ihm zu: "Halt an,

damit ich mit dir gehen kann!"

Er trägt so sanft in jenes Land,

das uns so fern, so unbekannt,

und uns doch soll die Heimat sein,

in die wir gerne gehen ein.

Doch auch die Erde hat uns umspannt

mit lieblichem Blick, mit lieblicher Hand,

war sie zuerst uns doch Heimatland,

ehe den Himmel wir gekannt.

"Ist denn niemand in dieser großen Stadt,

der Sehnsucht nach mir im Herzen hat?"

Jetzt steht er still, ihm wird gewinkt,

im Auge eine Träne blinkt,

es ist ein altes Mütterlein.

Es ruft ihm wirklich zu: "Tritt ein!

Ich sehne mich schon lang' nach dir,

trag' sanft mich zu der Himmelstür!

Hier hab' ich viele, viele dort,

jetzt geh' ich gerne von hier fort.

War 's auch auf Erden, ach, so schön,

jetzt werd' ich meinen Heiland seh'n.

Lebt wohl, ihr Lieben, die hier steh'n,

dort oben gibt 's ein Wiederseh'n!"


Der Tod berührt sanft Aug' und Herz,

und ab fällt jeder Erdenschmerz!

Fort aus der Erde gold'nen Tagen

wird er sie hin zu Gott nun tragen,

Verklärung über sie zu breiten,

als guter Freund sie heim geleiten!



(unbekannt, Initialen C.E., ca. um 1900)


Sonntag, 26. Oktober 2025

Das alte Mütterchen


 

Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß abends allein in seiner Kammer. Es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hatte und nun ganz allein und verlassen war. Da ward es in tiefstem Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, dass es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich, dass es die ganze Nacht also in Leid durchwacht hatte, zündete seine Leuchte an und ging zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Licht. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr frei, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute so ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandte, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern, aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es ging aber ein leises Summen und Wehen durch die Kirche. Da stand eine Muhme auf, trat vor und sprach zu dem Mütterlein: "Dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen." Die Alte blickte hin und sah ihre beiden Kinder, der eine hing am Galgen, der andere war auf das Rad geflochten. Da sprach die Muhme: "Siehst du, so wäre es ihnen ergangen, wären sie im Leben geblieben und hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen." Die Alte ging zitternd nach Haus und dankte Gott auf den Knien, dass er es besser mit ihr gemacht hatte, als sie hätte begreifen können; und am dritten Tag legte sie sich und starb.


(Märchen nach den Gebrüdern Grimm)

Freitag, 24. Oktober 2025

Nun lasst uns den Leib begraben


 

Nun lasst uns den Leib begraben;

daran wir kein Zweifel haben,

er wird am jüngsten Tag auferstehn

und unverweslich hervorgehn. 


Erd' ist er und von der Erden

wird auch zur Erd' wieder werden

und von der Erd' wieder aufstehn,

wenn Gottes Posaun' wird angehn.


Sein' Seele lebt ewig in Gott,

der sie allhier aus lauter Gnad',

von aller Sünd' und Missetat,

durch seinen Sohn erlöset hat.


Sein Jammer, Trübsal und Elend

ist kommen zu ein'm sel'gen End',

er hat getragen Christi Joch,

ist gestorben und lebet noch.


Die Seele lebt ohn' alle Klag',

der Leib schläft bis am jüngsten Tag,

an welchem Gott ihn verklären

und ew'ger Freud' wird gewähren.


Hier ist er in Angst gewesen,

dort aber wird er genesen,

in ewiger Freud' und Wonne

leuchten, als die helle Sonne.


Nun lassen wir ihn hie' schlafen

und gehn all heim unsre Straßen,

schicken uns auch mit allem Fleiß;

denn der Tod kommt uns gleicher Weis'.


Das helf' uns Christus, unser Trost,

der uns durch sein Blut hat erlöst

von 's Teufels G'walt und ew'ger Pein,

ihm sei Lob, Preis und Ehr' allein.



(c) Michael Weisse (1488-1534)

Donnerstag, 23. Oktober 2025

Wird gleich mein Leib des Todes Raub


 

Mein Heiland lebt; er hat die Macht

des Todes ganz bezwungen,

und siegreich aus des Grabes Nacht

zu Gott sich aufgeschwungen.

Er ist mein Haupt; sein Sieg ist mein.

Sein soll mein ganzes Leben sein,

und ihm will ich auch sterben.


Nicht ewig wird, wer dein Wort hält,

den Tod, o Jesu, schauen.

Das ist 's, was mich zufrieden stellt,

selbst bei der Gräber Grauen.

Ich bin getrost und unverzagt,

weil du den Deinen zugesagt:

"Ich leb', und ihr sollt leben!"


Wird gleich mein Leib des Todes Raub,

er wird doch wieder leben,

und einst aus der Verwesung Staub

voll Klarheit sich erheben.

Wenn du, o großer Lebensfürst,

nun deine Toten rufen wirst,

zum Leben aufzuwachen.


Wie froh und herrlich werd' ich dann 

vor dir, mein Heiland, stehen!

Dann nimmst du mich mit Ehren an,

lässt in dein Reich mich gehen.

Forthin von keiner Last beschwert,

an Leib und Seele ganz verklärt,

leb' ich bei dir dann ewig.


O welch ein selig' Teil ist mir

in jener Welt bereitet,

der Freuden Fülle ist bei dir.

Von dir, o Herr, geleitet,

werd' ich in deinem Himmelreich

unsterblich, deinen Engeln gleich,

vollkommne Lust genießen.


Denn, wo du bist, da sollen die,

die dir hier folgen, leben.

Und ewig frei von Schmerz und Müh',

von Seligkeit umgeben,

dich schau'n in deiner Herrlichkeit.

O, was sind Leiden dieser Zeit,

Herr, gegen jene Freuden?


Lass' die zukünft'ge Herrlichkeit

mir stets vor Augen schweben;

und oft sich in der Prüfungszeit

mein Herz dahin erheben,

wo keine Schwachheit uns mehr drückt,

wo wir der Sterblichkeit entrückt,

frohlockend vor dir wandeln.


Erwecke mich dadurch zum Fleiß,

der Tugend nachzustreben,

und als dein Jünger dir zum Preis,

nach deinem Wort zu leben.

Und fühl' ich hier noch Not und Schmerz,

so tröste du damit mein Herz:

Es kommt ein bessres Leben!



(c) Johann Samuel Diterich (1721-1797)

Säer


 

Hundert Samen sät des Bauern Hand.

Sieben Körner fallen auf totes Land,

sieben geraten auf Stein und sieben in Staub,

sieben treffen die Krähen und sieben sind taub.

Sieben Körner werden vom Winde verweht,

über sieben Körner zermalmend die Egge geht,

sieben zernagen die Mäuse, sieben der Wurm,

sieben verwittert der Regen und sieben der Sturm.

Sieben erstehen und werden im Halm geknickt,

sieben ergrünen und werden von Unkraut erstickt.

Sieben allein entgehen Disteln und Dorn,

drängen zu tragenden Ähren und werden Korn.


Hundert gute Worte säen wir aus,

hundert gute Werke wandern hinaus.

Sieben zerflattern und wählen ein schlechtes Kleid,

sieben vernichtet Verrat und sieben der Neid,

sieben werden verspottet und sieben verkannt,

sieben mit Schande beworfen und sieben verbannt.

Sieben geraten in tiefe und schlüpfrige Hände,

sieben entfachen Verdacht und verderbliche Brände,

sieben zerstören Vertrauen und sieben Glück,

sieben schnellen gefährlich auf uns zurück.

Sieben werden verloren, sieben zerrieben.

Und aller Worte und Werke, die übrig geblieben,

findet ein einziges, schüchtern, beklommen und klein

in die gewollte, gesollte Bestimmung hinein.

Eines von allen, die uns aus dem Herzen geflossen,

eines von allen, die unserer Liebe entsprossen,

schändet uns nicht, verkündet und ehrt unsern Namen,

kommt zu Gedeihen, blüht auf, bringt Frucht und wird Samen.



(c) Johannes Heinrich Braach (1887-1940)

Unruh' der Zeit

 


Das kleine Rad läuft ohne Ruh',

und mit ihm wider Willen du,

und ich und jedes Menschenkind.


Die Unruh' im Gehäuse klagt,

das Herz in armer Brust verzagt:

Wohin, wozu denn so geschwind?


Und mancher fragt und klagt sich taub:

Mein Leben fährt dahin wie Staub

in einem starken Wind.


Doch singt die Drossel immerzu.

Die Rose blüht in Himmelsruh'.

Die Mutter wiegt ihr Kind.


Da schweigt der Wind, steht still die Zeit.

Da glänzt herauf die Ewigkeit,

wo wir zu Hause sind.



(c) Will Vesper (1882-1962)

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Schlaf und Tod


 

Ich frage, wo werde ich morgen sein?

Vielleicht hat heut' meine Stunde geschlagen.

Doch segle ich in eine Ewigkeit ein,

löscht Dunkel an Dunkel jeglichen Schein,

ein Wunder wird schließlich doch tagen.


Ist über uns, unter uns Welt an Welt,

die alle zum Großen zusammenfließen,

dann sind wir auch mitten hineingestellt,

und zu uns vom All her ein Wink sich gesellt,

dem Zuge uns anzuschließen.


Und sah ich am heutigen, letzten Tag

Menschen und Erde und Abendgelände,

tickt heute mein Herz seinen letzten Schlag,

lebt wohl denn, es komme, was kommen mag!

Der Tod ist nimmer ein Ende.


Menschen und Erde und Morgenrot

erwachen und sterben - auf und nieder.

Nichts als Ruhe im Schlaf ist der Tod ---

und endloses Werden des Lebens Gebot.

Vom Tode erwachen wir wieder.



(c) Knut Hamsun (1859-1952)