Samstag, 24. Oktober 2015
Nur einmal (von Augustin Wibbelt)
Nur einmal
Alle Kunst fordert Übung. Das Genie ist eine Gabe, aber auch eine Aufgabe, und eine Aufgabe wird nicht gelöst ohne Arbeit und Fleiß. Der Meister fällt nicht vom Himmel, sondern steigt durch Versuche und Probestücke zu Meisterwerken empor.
Nur eine Kunst gibt es, die ohne Übung gekonnt werden muss, und zwar von jedem: dazu ist es noch die wichtigste von allen. Es ist die Kunst zu sterben. Zu sterben, ist keine Kunst; es ist aber eine große Kunst, gut zu sterben, und mancher Tod mag Stümperwerk sein. Wir haben wohl das ganze Leben zur Verfügung, um diese Kunst zu lernen; aber wir können nicht probeweise bloß zur Übung sterben. Nur einmal sterben wir, gleich die erste Ausübung dieser Kunst muss ein Meisterstück sein. Einmal misslungen heißt für immer misslungen. Wohl mancher würde seinen zweiten Tod anders einrichten, wenn er zweimal sterben dürfte. Aber der Tod ist ein Schritt, den wir nicht zurücktun können, und die ganze Ewigkeit hängt an diesem Schritte. Das ist eine recht bedenkliche Sache. Wir müssen gleichsam alles auf einen Wurf setzen, nur dass hier keine Rede sein kann von Glücksspiel und Zufall. Wenn irgendwann im Leben, dann gilt vom Abschluss des Lebens das Wort: Der Mensch ist seines Glückes Schmied. Das ist ein guter Trost bei dieser bedenklichen Sache: nur einmal - aber das Ungefähr hat keine Hand im Spiele, nur Gottes Gnade und Menschenwille; für die erste steht der Herrgott selber ein, für den zweiten müssen wir stehen.
Trotz allem - das Wort "nur einmal" kann die letzte Stunde mit Schrecken füllen; es wird um so schrecklicher sein, je weniger wir damit vertraut geworden sind. Das Wort ist ein wildes Tier, das leicht zu zähmen ist, wenn man es allmählich an sich gewöhnt; man muss sich nur mit ihm abgeben, sich anpassen und einrichten, dann verliert es alle Wildheit. Zuletzt gewinnt das Wort "nur einmal" sogar einen freundlichen Klang. Dann seufzt die Seele erleichtert: Gott sei Dank, nur einmal brauchen wir zu sterben, dann ist es ein für allemal überstanden!
Weil der Mensch nur einmal stirbt, darum soll er es auch wissen, wenn der Tod kommt; er darf nicht überrumpelt werden, wenn es zu verhindern ist. Man lasse ihm die freundliche Hoffnung, damit sie die letzten dunklen Stunden noch ein wenig erhelle; so stark sind nicht viele, dass sie die Hoffnung missen können. Aber man täusche die scheidende Seele nicht über den Ernst ihrer Lage und stehle ihr nicht die kostbarsten Augenblicke. Wer vor dem letzten, einen, großen Schritte steht, von dem so viel abhängt, der hat Anspruch darauf, dass er sehend sei! Es frevelt die Hand, die ihm die Augen verbindet mit einer Lüge. Was glaubt man denn wunders zu tun, wenn man dem Sterbenden den nahenden Tod verbirgt? Man hat ihm höchstens einige ruhige Stunden verschafft, und wenn jemand sagt: das ist viel, so ist zu entgegnen: es ist ein erbärmliches Geschenk für eine unsterbliche Seele, die der Ewigkeit entgegengeht, um für immer selig oder unselig zu werden. Ein Christ erschrickt nicht so sehr vor einer Wahrheit, die er zu seinem Heile nützen kann. Und wenn er erschrickt, dann hat er die Wahrheit vielleicht um so nötiger und ist ohne sie um so schwerer betrogen. Es ist eine egoistische, lieblose und heidnische Schonung, die nur auf die wenigen flüchtigen letzten Momente des Erdenlebens schaut, als wäre der Tod das Ende, wo er doch ein Anfang und eine Entscheidung ist. In Wahrheit ist es nicht eine Schonung, sondern eine unbedachte Grausamkeit.
Es kann freilich sehr bitter sein, einem lieben Kranken mitzuteilen, dass er sich auf den Tod gefasst halten müsse, und vielleicht weiß er es einem zunächst gar nicht zu danken. Danach fragt die wahre Liebe nicht. Die Liebe bringt Opfer und nimmt auch das sehr schwere Opfer auf sich, wenn es sein muss: einer geliebten Seele wehe zu tun. Die Liebe weiß auch die Worte zu finden, die der Wahrheit die verwundende Schärfe nehmen; schon aus ihrer herzinnigen Teilnahme fließt linder Balsam. Die Liebe hilft der scheidenden Seele, nicht bloß, leicht zu sterben, sondern vor allem, gut zu sterben, denn der Mensch hat ja kein zweites Mal zu sterben.
Möge diese Liebe an unserm Sterbebett stehen!
(Augustin Wibbelt, 1862-1947)