Montag, 26. Oktober 2015

Grabrede (1864)



Am Grabe einer Greisin

"Suchet den Herrn und lebet." (Amos 5, 6)

Ein Sterbender ist jederzeit ein Prediger der Lebenden, weswegen die Hausgenossen, die Nachbarn und Freunde nie ohne einigen Nutzen für ihre Seele am Sterbelager eines Scheidenden sich versammeln. Hier haben sie die beste Gelegenheit, augenscheinlich wahrzunehmen, wie bald es mit dem sterblichen Menschen zu Ende gehe und was er sei. Auch wie übel man daran tue, die Gnadenfrist verstreichen zu lassen, und die Buße auf jene Zeit aufzusparen, wo der Tod, wie man zu sagen pflegt, auf der Zunge sitzt.

Ein Sterbender ist ein Prediger der Lebenden, deswegen trägt man die Leichen öffentlich über die Straße, damit ein Jeder, der sie vorüber tragen sieht, des Todes sich erinnere; deswegen läutet man die Schiedungsglocke, deswegen stellt man ein Leichenbegängnis an, deshalb das Gepränge; Weihrauch und Weihwasser gemahnen uns, gleich eindringlichen Predigern, an ernste Wahrheiten; desgleichen das dumpfe Rollen der Erdschollen, die der Priester auf den Sarg wirft unter den Worten: Von Erde hast du mich gemacht, mit Fleisch mich bekleidet, o mein Erlöser, erwecke mich am jüngsten Tage!

Das ist auch der Grund, weshalb man in Gegenwart des toten Körpers Leichenpredigten hält, denn diese helfen dem Verstorbenen sehr wenig, mit Ausnahme des Gebetes, das am Ende verrichtet wird. Was soll es auch dem Toten nützen, gelobt zu werden, wenn er dessen nicht wert ist? Ist er schon gerichtet von Gott, ehe wir seine irdische Hülle zu Grabe begleiten?

Darauf aber ist es bei derlei Grabreden abgesehen, dass die Lebenden ermahnt und gebessert werden. Suchet den Herrn, da er noch gefunden werden kann, da ihr noch lebet! "Suchet den Herrn und lebet!" Das predigt uns das Grab mit Donnerworten. Suchet ihn jetzt, da ihr noch lebet, jetzt, wo ihr ihn noch finden könnt; denn es ist zu spät, ihn suchen und finden zu wollen, wenn beim Sterben Verstand, Gedächtnis, Wille und Kraft geschwunden sind.

Dies predigt uns besonders die Vollendete, die wir soeben zur Ruhe eingesegnet haben; denn sie suchte den Herrn zeitlebens, also da er noch zu finden war. Ich sage zu unserer Belehrung und Erbauung:

Wer den Herrn zeitlebens nicht sucht, ist in Sachen seines Seelenheiles blind.

Es bleibt ein Zeichen und auch eine Wirkung der Vorsicht, die rechte Zeit zu gebrauchen wissen; darum sagt man: Die Ameise ist klüger als die Grille, denn diese singt im Sommer und verhungert im Winter, während jene zur Sommerzeit Proviant einsammelt, davon sie im Winter sich nähret. Ja, ich gehe noch weiter und sage: Die Ameise ist auch klüger als viele Menschen; denn anstatt viele gute Werke zu sammeln für jene Stunde, wo die Kälte und die Öde des Todes eintritt, faulenzen sie mit der Grille, lassen es auf die letzte Stunde ankommen und gehen zu Grunde.

Auf derlei Leute wendet der hl. Bernard die Stelle an, wo es im 5. Mose 32, 28 heißt: "Das ist ein Volk ohne Verstand und Einsicht." und (l. c. 29 v.): "O dass sie doch Einsicht und Erkenntnis hätten und ihres Endes gedächten!" Sie gedenken nicht weiter als an das Gegenwärtige, dagegen lassen sie dahingestellt sein den Tod und das Ewige. Wenn sei verstünden, was Gott angeht, sie würden erschrecken vor der Hölle, die Welt verachten und dem höchsten Gut allein anhängen. Wenn sie verstünden, was Gott angehöret, sie würden die Hindernisse eines guten Todes aus dem Wege räumen, die Sünde meiden und verständigerweise und ernsthaft lernen, wohl zu sterben.

Derlei Reden aber sind heutigen Tags vielfach in den Wind gesprochen. Es wird, ich möchte sagen, täglich den Lebenden der Tod, das letzte Gericht, die Zeit der Buße vor Augen gestellt, und dessen ungeachtet achtet man darauf soviel wie nicht. Wie ein blinder tappt man fort, den Schmeichelworten der Welt, Satans oder des Fleisches gibt man Gehör, trauet ihnen, folget ihnen, und aber die Lehre der Frommen, die Predigt der Sterbenden und Toten schlägt man sich aus dem Sinne. Deshalb nenne ich derlei Leute mit Fug und Recht blind, und zwar nicht etwa in einer geringen und unwichtigen Sache, sondern in einer Angelegenheit, von der Seele und Seligkeit der Seele abhangen. Was wäre billiger, als dass man bei Ansehung einer Leiche auf seine Brust schlüge und reumütig betete: Herr, sei mir armen Sünder gnädig! O Gott, gib mir eine glückliche Sterbestunde! Das sind aber jenen Leuten die letzten und geringsten Gedanken und Sorgen. Man zecht und prasset, man putzt sich, scherzt und lacht, während man den Toten begräbt.

O die Blindheit! Wenn anderen Leuten die Augen zugehen, dann sollten sie euch aufgehen. Alles Lob verdient deshalb der hl. Franziskus Borgias, ehemals Herzog von Gandia, der, als er die Leiche der Königin Isabella so ganz entstellt sah, in sich ging und Gott suchte alle Zeit und wie er nur konnte. Ist der Mensch sonst weiter nichts, als solch ein Nest von Würmern, so will ich nimmer den Fürsten, die ebenfalls nur Menschen sind, sondern Gott allein dienen, so will ich sterben lernen, da ich noch Zeit habe, mich auf die Todesstunde wohl vorzubereiten.

Eine christliche Rede! Dagegen nichts Unchristlicheres und Wahnsinnigeres, als dem Rufe des Todes: "Auch du musst sterben, bereite dich auch vor!" den Rücken kehren und sich die Ohren verstopfen! O wie blind handelt, wer nur den Stimmen der Welt folgt, und seinen Lebenslauf in Essen, Trinken, Buhlen, Müssiggehen und irdische Lüste setzt!

Auch betrüget die Welt den Menschen niemals mehr, als wenn sie ihm noch eine lange Zeit verspricht, da er Buße tun kann. Wie diejenigen, welche an der Lunge leiden, sich in der letzten Zeit ihres Lebens am wohlsten fühlen, so ergeht es auch den Weltligen, die, je näher ihnen der Tod steht, desto ferner ihn wähnen. Gott finden ist nicht Sache der Jugend, der Gesundheit, der Kraft, des langen Lebens, sondern Sache der Gnade. Wer nun diese nicht sucht, der hat keine Ursache, sich dieselbe im hohen Alter oder auf dem Sterbebette zu versprechen.

Andächtige! Nehmet euch, was die Vorbereitung auf den Tod und das Gott-Suchen anbelangt, die Verlebte zum Muster. Viele Jahre hatte die Verlebte Gelegenheit, Gott zu suchen und zu finden; diese Gelegenheit ließ sie denn auch nicht unbenutzt vorbeistreichen. Jedes Jahr ihres langen Lebens ist davon ein Zeuge. Durchgehen wir noch kurz der Verewigten Lebenslauf (Darstellung ihres Lebens bis zu ihrem Tode und Hervorhebung der hierher geeigneten Momente, sowie des ganz Individuellen aus dem Charakter oder den Rden der Verlebten etc.). So suchte sie mit jedem Tage reicher zu werden an guten Werken und wie an Jahren so auch an Gnade bei Gott zuzunehmen, bis der Tod dieses Leben mit dem ewigen zu vertauschen gebot.

Lassen wir es von der Vollendeten hier gepredigt sein! Suchet den Herrn, da ihr ihn noch findet! Suchet ihn, da ihr noch lebet, damit ihr fortlebet! Nach dem Tode ist keine Zeit mehr zum Suchen. Ein Toter befindet sich nicht mehr auf dem Wege, sondern in der Heimat, wenn er selig ist. Ist er aber verdammt, so ist er ebenfalls aus dem Wege, und sieht sich außer Stand, etwas Gutes mehr zu wirken,  wie wir an dem reichen Prasser sehen. Die Gnadensonne leuchtet uns nur so lange, als unsere Augen offen stehen. Durch einen unglückseligen Tod geschlossen, ist es für uns mit dem belebenden Lichte der Gnade aus. Ich habe einstmals eine Sonnenuhr betrachtet, an der mir besonders der Spruch gefiel: Ich vergehe im Schatten und leuchte mit der Sonne. Diese Sonne ist das Gnadenlicht, das von Gott kommt und auf den Sünder strahlt. Leuchtet das nicht, so kann der Sünder Gott auch nicht finden. Im Tode aber, da sitzen wir im Schatten und das Wirken hat aufgehört.

Lasset uns deshalb, wie der Apostel anrät, Gutes tun, so lange wir Zeit haben! Schließlich aber wollen wir beten zum Troste und für die Seelenruhe der Verlebten, auf dass Gott ihr ihre Fehler vergeben möge, die zu begehen nicht ausbleiben konnten, da selbst der Gerechteste siebenmal des Tages fällt, und die Hingeschiedene ein so hohes Alter erreicht hat. Vater unser .... Ave Maria ... Amen.


(Priester Matthias Heimbach, 1864)