Samstag, 3. März 2018
Trübsal bringt Geduld
Grabrede, gehalten von Stadtpfarrer Burk, 1840:
Himmlischer Vater! Mit tiefer Bewegung unserer Herzen stehen wir an diesem früh geöffneten Grabe einer Gattin und Freundin, die Du nach schweren, jahrelangen Leiden vollendet hast. Wollte es auch ihr selbst und uns oft unbegreiflich scheinen, warum Deine Weisheit und Güte einen so schmerzensreichen Pfad sie führte, wir erkannten doch je länger je deutlicher, dass Deine Führung eine heilige und selige sei, und preisen jetzt Deinen heiligen Namen in dem gläubigen Vertrauen: Du habest Dein Werk auch an dieser Seele vollendet - und sanft mag nun ihre sterbliche Hülle im kühlen Schoß der Erde ruhen, dem wir sie jetzt mit der freudigen Hoffnung übergeben: es kommt einst der Tag, da Du alle, die in den Gräbern sind, wieder rufen, und jeglichen, der im Glauben seine Laufbahn vollendet, mit einem seligen Leben erfreuen wirst. Amen.
So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen,
ja selig, wenn auch meistens wunderbar.
Wie könntest Du es böse mit uns meinen?
Du bist ja treu, Dein Wort bleibt ewig wahr.
Die Wege sind oft krumm und doch gerad',
darauf Du lässest Deine Kinder geh'n;
da pflegt's oft wunderseltsam auszuseh'n:
doch triumphiert zuletzt Dein hoher Rat.
In dem demütig dankbaren Bekenntnis dieses Liebesverses, den wir einem Mann von tiefer christlicher Erfahrung verdanken, ist schön und treffend all das zusammengefasst, was wir an dem offenen Grabe unserer nun vollendeten Freundin und an der schon seit anderthalb Jahren geschlossenen Ruhestätte ihres einzigen früh dahingewelkten Kindes fühlen und denken; wer wollte es uns verargen, wenn wir nach einer Lösung der mannigfaltigen Rätsel des menschlichen Lebens verlangten. Wir werden ja so oft ganz andere Wege geführt, als die wir uns selbst erwählen würden, stände eine freie Wahl uns offen; und diese Wege sind oft so steil, so dornig, so dunkel und geheimnisvoll, dass wir notwendig irre werden, wenn wir nicht gar verzagen und verzweifeln müssten, gäbe es für uns kein Licht, dass diese Dunkelheit freundlich erhellte. Doch Dank, inniger Dank sei unserem hochgelobten Heilande, Jesu Christo. Er hat gewährt uns dieses Licht, und spricht selbst tröstend zu uns: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. --- Halten wir uns an dies Wort, glauben wir es fest und zuverlässig - Er ist 's, der uns leitet und führt, und alles, was uns hienieden widerfährt, gehört mit in den weisen und heiligen Erziehungsplan hinein, den Er, der allwissende Herzenskündiger mit genauer und zarter Beachtung der Bedürfnisse jedes Einzelnen gemacht hat, wie ruhig, wie getrost können wir dann sein! Verstehen wir auch hienieden noch nicht alles, müssen wir bei manchem auf die jenseitige deutliche Enthüllung warten - wir haben doch einen festen Grund dauernder Beruhigung, und sehen von Schritt zu Schritt heller das Ziel uns entgegenleuchten, dass Seine Weisheit und Güte uns gestellt hat. Wie wohltuend ist uns besonders auch an diesem Grabe dieses beruhigende Licht. Wenn man im Allgemeinen von uns Menschen allen sagen kann, wir wandeln als Pilgrime, ja als Sterbende hienieden, jeder unserer Schritte sei ein Schritt zum Grabe: so galt das in ganz besonderem Sinne seit einer Zeit vieler Monate von derjenigen, deren sterbliche Hülle wir hier niederlegten. Sie wandelte schon lang im vollkommenen Sinne des Wortes als eine Sterbende unter uns, sie trug nicht nur, wie wir alle, den allgemeinen Keim der Zerstörung in ihrem hinfälligen Leibe, sondern es hatte sich ein besonderes Leiden schon seit längerer Zeit so unversiegbar bei ihr festgesetzt, dass es ihr nicht verborgen sein konnte, sie werde nach kurzer Zeit von hinnen scheiden müssen. Noch zu der Zeit, da sie ihr Leidens- und Todeslager verlassen, und im Freien an der Schönheit der Natur sich ergötzen konnte, mit welcher Gott diese hinfällige Welt zumal in der herrlichen Frühlingszeit zu schmücken pflegt - sprach sie oft und viel von ihrem nahen Tod, sie glaubte sogar unter dem heftigen Druck ihrer fast unausstehlichen körperlichen Beschwerden, die Stunde des Abschieds sei ihr viel näher, als der Erfolg es zeigte, aber es war eben doch ein richtiges Gefühl, das ihr sagte: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben! - und gerade, wenn wir auf die unverkennbarste Weise wahrnehmen konnten, dass ihre menschliche Natur so gut als irgend eine andere vor den Schrecknissen des Todes zurückbebte, so musste es uns um so einleuchtender werden, es gehörte mit zu ihrer Erziehung und Vorbereitung für das andere bessere Leben, dass sie so lange in dem lebhaftesten Vorgefühl des herannahenden Todes verharren, und wiederholt in vollem Maße die Bitterkeit des Todes schmecken musste. Überhaupt konnte, wer den Gang ihres inneren Lebens genauer und sorgfältiger beobachtete, unmöglich übersehen: es habe von dem Augenblick an, da sie vor nicht vollen sieben Jahre durch ihre Verbindung mit ihrem nun leidtragenden Gatten in unsere Mitte eintrat, eine ganz neue, sehr ernste, aber auf das seligste Ziel berechnete Lebensschule für sie begonnen. Zwar hatte sie das Glück, mit einem Gatten verbunden zu werden, der mit der treuesten und zärtlichsten Liebe sie behandelte, und in den Tagen der Krankheit mit jener aufopferungsvollen Geduld und Sorgfalt sie pflegte, wie man sie nur immer von einem Christen erwarten kann, dennoch brachte es der Stand, in den sie eingetreten war, mit sich, dass sie manche Freude, manchen Genuss entbehren lernen musste, welcher in den Tagen ihrer Jugend ihr reichlich zu Gebot gestanden; sie hatte daneben manche schwere und niederbeugende Erfahrung ihres Gatten zu teilen, und die reiche Freudenquelle, welche einer Mutter mit der Geburt und dem Heranwachsen geliebter Kinder sich eröffnet, blieb ihr nicht allein längere Zeit verschlossen, sondern als ihr endlich das Glück zuteil ward, an ihr Mutterherz ein liebliches Kind zu drücken, das sie nach den obwaltenden Verhältnissen nicht mit Unrecht als ein außerordentliches Geschenk der göttlichen Gnade betrachtete, so war 's, als ob der himmlische Erzieher eile, sie auch das ganze Maß schmerzensvoller Elternsorgen kosten zu lassen. Man hat schon öfters gesagt, einzige Kinder seien Sorgenkinder, dies bestätigte sich hier in vollem Maße. Die sieben Monate, während welcher sie den Liebling ihres Herzens verpflegen durfte, waren eine fortlaufende Kette von Beängstigungen und Sorgen, und je lieblicher sich die Kräfte des Kindes entfalteten, desto größer ward in ihren Augen der Verlust, den sie, wie ihr nicht verborgen blieb, bald erleiden sollte.
Es kam endlich die gefürchtete Stunde, da der HERR wieder forderte, was Er gegeben, da gelernt werden sollte die schwere Aufgabe Hiobs, auch bei dem schmerzlichen Verluste zu sprechen: der Name des HERRN sei gelobet ! Es sei ferne von uns, es ihr zu verdenken, dass sie eine ziemliche Zeit brauchte, um diese Aufgabe gründlich zu erlernen; Gott selbst preiset uns ja seine unendliche Liebe damit an, dass Er uns offenbart, Er habe den eingeborenen Sohn uns gegeben, wie könnte man uns Armen verargen, wenn es uns schwer fällt, hinzugeben, was mit Rechst das liebste und Teuerste heißt. Dieweil aber der Herr eilte, unsere Entschlafene auf den Himmel zuzubereiten, so gab Er ihr, ehe sie noch jene Aufgabe ganz gelernt, eine neue nicht minder schwere, sie sollte mit dem Gedanken an ihren eigenen nahe bevorstehenden Tod sich vertraut machen, und das gerade zu einer Zeit, wo ihrem Gatten der Eintritt in einen neuen Wirkungskreis bevorstand, und sie die nahe Erfüllung manches billigen Wunsches hoffen durfte. Diese neue Aufgabe forderte nichts geringeres, als die gänzliche Verleugnung der dem Menschen so natürlichen Liebe zum Leben, und eine vollständige Bereitung auf die ernste Rechenschaft, die uns vor dem Richterstuhl Jesu Christi bevorsteht; sie war aber für unsere Entschlafene um so schwerer zu lösen, da die andauernde körperliche Pein die Aufmerksamkeit der Seele jeden Augenblick wieder von der geistlichen Beschäftigung auf den leiblichen Schmerz hinlenkte. Darum war 's denn auch ein langer und schwerer Kampf, den sie kämpfte, bis sie zur vollkommenen ruhigen Ergebung durchdrang und sagen konnte, "ich gäbe jetzt mein Leiden nicht mehr her, denn ich weiß, es führt mich zu meinem Heiland." So erprobte sich denn am Ende an ihr die Wahrheit des Worts: Wir wissen, dass Trübsal Geduld bringt, Geduld aber bringt Erfahrung, Erfahrung aber bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden.
Die Trübsal führte sie je mehr und mehr auf ihr eigen Herz, denn die Nähe des Todes forderte sie zu einer ernsteren und tiefgehenden Selbstprüfung auf, und die wachsende Selbsterkenntnis offenbarte ihr je länger je deutlicher das Bedürfnis eines Heilandes, der aus unverdienter Gnade uns allen unsere Schuld vergibt, und durch sein verdienstvolles Leiden uns ewige Seligkeit verschafft. Im Laufe dieser inneren Erfahrungen musste auch aller Ruhm eigener Gerechtigkeit von ihr dahin gegeben und die demütigende Erfahrung von jener Armut des Geistes gemacht werden, welche Jesus eben darum selig preist, weil ihr der Besitz des Himmelreichs so nahe liegt. Als sie aber in dem gläubigen Bewusstsein ruhen gelernt, dass auch ihr aus Gnaden das Verdienst des Heilands geschenkt sei, da stand sie am Ziel ihrer Lebensstunden, und schneller, als man es sich wenige Tage zuvor gedacht, war ihre hinfällige Hütte vollends abgebrochen. Ruhig und gelassen harrte sie jetzt des Augenblicks ihrer Erlösung, da der Tod verschlungen war in den Sieg; da ihr ermatteter Leib zur Ruhe kam und ihre Seele aufgenommen ward von dem, der sie so teuer erkauft, durch Sein Kreuz und Tod.
Wir aber, indem wir ihr von Herzen den errungenen Frieden gönnen, schauen auf ihr Ende mit dem ernsten doch freudigen Gedanken daran, der HERR sucht und findet die Seinen, ein treuer Hirte gehet Seinen Schafen nach und suchet sie da, und suchet sie dort, ruft sie mit Namen, und lockt sie heran in Seine Nähe. Mit Weisheit leitet Er ihre Schritte; selig, wer Ihm frühe und willig folget ! Der Weg, auf dem Er uns aus den Verirrungen menschlicher Torheit, Eitelkeit und Sünde herausführt, ist freilich oft kein angenehmer und bequemer Weg, aber es ist ein Weg des Heils und des Friedens.
Manch bittere Arznei wird uns in der Schule des HERRN gereicht, aber wer sie mit kindlicher Folgsamkeit gebraucht, hat eine baldige Genesung u hoffen. O dass wir doch mit unwandelbarer Treue an den treuen und wohlmeinenden Erzieher uns anschlössen, nie durch unsere Trägheit, nie durch unseren Eigensinn Sein heilsames Werk aufhielten. O dass wir jeden Augenblick der ernsten Stunde gedächten, die uns von hinnen rufen und vor Sein heiliges Angesicht stellen wird ! Dies sei durch den gnadenvollen Beistand Gottes der Segen unserer heutigen Trauerbetrachtung, dies der unversiegliche Quell des Trostes, der einem jeden unter uns jetzt und immerdar gewähre, was er unter den mannigfaltigen Leiden und Prüfungen dieses Lebens bedarf, dann gehen auch wir einst, ist einmal unser Lauf hienieden vollbracht, mit Freuden aus dieser Welt, dieweil wir wissen, die Wohnungen des Vaters warten unser, und in ihnen Freude und Wonne die Fülle. Amen.