Freitag, 16. März 2018

Große Sehnsucht


Oh meine Seele, ich lehrte dich "Heute" sagen wie "Einst" und "Ehemals" und über alles hier und da und dort deinen Reigen hinweg tanzen.

Oh meine Seele, es gibt nun nirgend eine Seele, die liebender wäre und umfangender und umfänglicher! Wo wäre Zukunft und Vergangenes näher beisammen als bei dir!

Oh meine Seele, ich gab dir alles, und all meine Hände sind an dich leer geworden: --- und nun! Nun sagst du mir lächelnd und voll Schwermut: "Wer von uns hat zu danken! --- hat der Geber nicht zu danken, dass der Nehmende nahm? Ist Schenken nicht eine Notdurft? Ist Nehmen nicht --- Erbarmen?"

Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner Schwermut: dein Überreichtum selber streckt nun sehnende Hände aus!

Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und sucht und wartet: die Sehnsucht der Überfülle blickt aus deinem lächelnden Augen-Himmel.

Deine Güte und Übergüte ist es, die nicht klagen und weinen will: und doch sehnt sich, oh meine Seele, dein Lächeln nach Tränen und dein zitternder Mund nach Schluchzen.

"Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen nicht ein Anklagen?" Also redest du zu dir selber, und darum willst du, oh meine Seele, lieber lächeln, als dein Leid ausschütten. --------

Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermut, so wirst du singen müssen, oh meine Seele! ---- Siehe, ich lächle selber, der ich dir solches vorhersage: ----- singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht gehorchen. -----

Oh meine Seele, nun gab ich dir alles und auch mein Letztes, und all meine Hände sind an dich leer geworden: ---- dass ich dich singen hieß, siehe, dass war mein Letztes!

Dass ich dich singen hieß, sprich nun, sprich: wer von uns hat jetzt ---- zu danken? ---- Besser aber noch: singe mir, singe, oh meine Seele! Und mich lass danken! ----- Also sprach Zarathustra.



(aus 'Also sprach Zarathustra.' von Friedrich Nietzsche, 1844-1900)