Wenn zwei Freunde sich begegnen, so fragt oft einer den andern: Wohin? Liest du diese Zeilen, so begegnen wir uns; ich grüße dich als Freund und frage auch. Wohin? Ich frage nicht für mich, denn ich weiß, wohin du gehst; ich habe ja dasselbe Ziel, nur weiß ich nicht, wer von uns näher dran ist. Das aber weiß ich, dass wir beide zum Kirchhofe gehen, oder wenn wir dort kein Plätzchen finden sollen, weil uns ein ungewöhnliches Ende beschieden ist, so gehen wir doch sicherlich zum Tode. Unser ganzer Lebensweg mag ungewiss sein in allen seinen Läufen und Wendungen, eins ist gewiss: dass er im Tode endet, und das andere ist ebenso gewiss: dass wir dem Tode mit jeder Stunde näher kommen.
Was ist das doch für eine seltsame Reise, die wir machen!
Wir mögen uns winden und wenden, rechts und links, vorwärts und rückwärts, wir kommen an diesem Ziele nicht vorbei. Es gibt gar keinen Abweg, der vom Tode wegführt, gar keinen Schleichweg, der herumführt -- nicht einmal einen Umweg gibt es: alle Wege führen schnurgerade zum Tode hin. Wir können auch nicht stehen bleiben. Wenn du auch fest entschlossen bist, keinen Schritt weiterzugehen, die Zeit misst dir unerbittlich deine Schritte zu und schenkt dir keinen einzigen. Sie gönnt dir keinen Bruchteil einer Sekunde zum Stillstehen auf der Lebensbahn, unaufhaltsam geht es vorwärts, unaufhaltsam --- unaufhaltsam --- eher steht die Sonne still am Himmel und der Mond in seinem Laufe, als dass dein Fuß ruhen könnte auf dem Wege zum Tode.
Wie weit noch die Stätte, der Weg wie lang? ---
Auf diese Frage bekommst du keine Antwort. Spähe, soviel du willst, schärfe deine Augen, so sehr du kannst, du siehst das Ende deines Weges nicht, und wenn es dir vor den Füßen läge. Wie seltsam ist doch unsere Reise!
Seltsam ist es auch, dass die Menschen, die doch alle auf dieser Wanderschaft sich befinden, so wenig an das Ende denken. Sie blicken auf das, was vor ihnen liegt, was der nächste Schritt bringt; das ist gut, denn --
was ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.
So lehrt Goethe. Aber wirst du der Forderung des Tages nicht vollkommener und leichter gerecht werden, wenn du zuweilen an das Ende denkst?
Seltsam ist es weiter, dass fast alle Menschen sich den Tod möglichst fern vorstellen, wenn sie einmal an ihn denken. Und doch hat keiner Grund dazu, auch der Jüngste nicht, auch der Gesündeste und Stärkste nicht. "Junge Leute k ö n n e n bald sterben, alte Leute müssen bald sterben", sagt das Sprichwort. Aber die alte Torheit stirbt nicht aus, die da spricht: "Nun iss und trink, meine Seele, und lass dir wohl sein!" Sie hört die Antwort nicht: "Du Tor! In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern." Es gibt Dinge, die wir gar nicht lernen wollen.
Und die uns doch so heilsam wären!
Der liebe Meister Raabe gibt uns die schöne Lehre, in der Goethes Wort von der Forderung des Tages ergänzt wird: "Blicke auf die Gassen, achte auf die Sterne!" Das ist hohe Lebensweisheit. Schau vor dich und über dich -- rechne mit der Wirklichkeit und bewahre die Ideale -- greife tätig zu im Leben, aber vergiss darüber die Ewigkeit nicht. Dies Wort weist auf den Tod und über den Tod hinaus; er ist es ja, der unserer Seele die Flügel lösen soll
zum Flug ins Reich der Sterne.
© Augustin Wibbelt (1862-1947)