Donnerstag, 27. Oktober 2016

Ein stetes Hinschwinden


"Welche Schauspiele bietet die Erde! Welchen Jammer bringt sie den tiefempfindenden Menschen! Und an der Erde sollten unsere Blicke haften bleiben?
O über die Nichtigkeit des menschlichen Daseins! Man kommt auf die Welt, und das Leben in ihr ist ein stetes Hinschwinden des Lebens! Eine Flamme, die im Winde zittert, die ein Hauch ausblasen kann!
Warum schaudert man, warum freut man sich nicht lieber des Todes? 
Wir scheiden ja nur von der Erde! Wir leben fort und tauschen für das mangelvolle Dasein ein besseres ein. An diesem Glauben halte ich fest im Angesicht des Todes!
Und dieser Glaube ist Wahrheit. Wir werden in das irdische Dasein nur geboren, um den Anfang zu machen eines Lebens, das ewig währt. Wir sind, sind selber, und wie wir sein wollen, werden wir sein.
Ein Wunder ist schon dieses Leben. Das fühlt man nicht im Glück und in der Gesundheit, wo man 's hinnimmt und meint, es müsste so sein.
Wem danken wir es?
Wem anders als dem Einen, der alles ist? Von dem Ewigseienden haben wir das Sein.
Und dieses Sein ist ewig, weil es von dem Ewigen kommt. Es ist ewig, weil er es gewollt hat und werden ließ und ewig will.
Alles, was entsteht, ist wert, das es zugrunde geht, sagt der böse Geist (im Faust) mit Recht. Aber was der Unentstandene zum Leben berufen hat und ewig lebend haben will, um sich daran zu freuen, das vergeht nicht."

© Melchior Meyr (1810-1871)