Mittwoch, 19. Oktober 2016

Die Todesfurcht


"Für den Menschen, wie er von Natur ist, gibt es keine furchtbareren Gedanken, als die an den Tod. Mit denen will er sich auch am wenigsten ernstlich einlassen. Wenn jemand vor dem Perserkönig Xerres (gest. 465 v. Chr.) vom Tode redete, sagte er: "Lass das traurige Geschwätz vom Tode fahren." König Ludwig XI. von Frankreich (gest. 1483) soll seinen Dienern bei Strafe verboten haben, in seiner Gegenwart den Tod zu nennen. In China geht es gegen den guten Ton, in einer Gesellschaft vom Tode zu reden. Die Natur flieht und bebt vor dem Tode; es ist ihr, als ob er schneller herbeikomme, wenn sie nur viel und ernstlich an ihn denkt. Ein bloßer Schmerz, der eine Zeitlang den Kopf einnimmt, ein paar Grad Hitze mehr im Schlag der Adern, eine ansteckende Krankheit in der Nähe macht schon unruhig, ängstlich, schwermütig. Die Furcht vor dem Tode ist weit größer, als die Menschen einander gestehen.
Die Todesfurcht ist in jedem Menschen, der noch ein Gewissen hat, der die Heiligkeit Gottes und die Unheiligkeit seines eigenen Herzens und Lebens kennt. Wer da nun das Wort erwägt: "Den Menschen ist gesetzt einmal zu sterben, darnach aber das Gericht" (Hebr. 9, 27) - dem muss es ebenso zumute werden, wie dem Hiskia, der, als nur noch eine Haarbreit zwischen ihm und dem Tode war, "winselte wie ein Kranich - und girrte wie eine Taube" (Jes. 38, 14).  Wär' der Mensch kein Sünder, sagte ihm das Gewissen und das Gesetz nicht, dass das Gericht des heiligen Gottes auf ihn warte, dann wüsste er nichts von der Todesfurcht. "Der Stachel des Todes ist die Sünde." (1. Kor. 15, 56). Die Todesfurcht ist ein nicht kleiner Beweis gegen den Unglauben, der frech sagt: "mit dem Tode ist 's aus, es gibt keinen Himmel und keine Hölle." Steht hinter dem Tode kein Gericht, sondern ein leeres Nichts, dann ist die Todesfurcht lächerlich; vor einem bloßen Nichts braucht man sich ja nicht zu fürchten. Die Todesfurcht ist eine Regung des Gewissens. Das sagt dir: "mit dem Tode geht 's nicht aus, sondern erst recht an, auf den Tod folgt das Gericht." Die Todesfurcht ist eines von den Zuchtmitteln der Gnade Gottes, auch einer von den "bitteren Pfeilen aus Seiner süßen Hand". Den bitteren Pfeil drückt Er den Menschenkindern dazu ins Herz, dass es zu der Klage und Frage bei ihnen komme: "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" (Röm. 7, 24).
So hat Gott selbst in die Todesfurcht noch einen Segen gelegt. Aber gar viele bringen sich auch um diesen Segen. Die einen suchen den Tod zu vergessen. Machen 's diese weiser, als jener Vogel in der Wüste, der den Kopf in den Sand steckt, wenn er sich von Jägern umzingelt sieht, in der Meinung, wenn er die Jäger nicht sähe, dann sähen sie ihn auch nicht? Ob du auch den Tod vergissest, der Tod vergisst dich nicht. Andere suchen die ernste Gestalt des Todes mit einem schönen Schleier zu verdecken und ihm ein anziehenderes Aussehen zu geben. Statt Tod oder Sterben brauchen sie mildere Ausdrücke wie: aus der Welt gehen, das letzte Schicksal leiden. Den Schreckenskönig suchen sie sich dadurch weniger schrecklich zu machen, dass sie ihm andere Namen geben, oder ihn unter schönen, aber unwahren Bildern darstellen: als den Erlöser von allen Leiden und als den Bringer besserer Tage. Aber das ist der Tod durchaus nicht für alle Menschen, sondern nur für die begnadeten Gotteskinder. Durch den Schleier, den die Menschen dem Tode umhängen, suchen sie sich in eine Herzhaftigkeit hineinzureden: hinter ihr steht aber ein zitterndes Herz. Wieder andere suchen sich von der Todesfurcht dadurch los zu machen, dass sie ihr Gewissen abstumpfen, dass sie die innere Stimme, die ihnen in stiller Stunde bezeugt: "auf den Tod folgt das Gericht", im Geräusch der mannigfachen Zerstreuungen des Erdenlebens übertäuben und totschlagen. Das ist der Weg zu der schrecklichen Unempfindlichkeit - zu der Verstockung, wie sie an jenem unbußfertigen Schächer zur Linken des Herrn offenbar geworden.
O liebe Seele, spiele nicht mit dem Furchtbarsten, was es in der Welt gibt! Geh' von der Geschäftsjagd und Vergnügungssucht in dich selbst, denk' fleißig nach über Tod, Gericht und Ewigkeit, mach dich nicht durch falsche Mittel von der Todesfurcht los, sondern suche die rechte Hilfe wider den Tod!"

(Heinrich Guth, 1829-1889)