Sonntag, den 23. August 1914
Seit kurzer Zeit bringen die Zeitungen lange Verlustlisten. Es sind schon viele Namen, auch wenn man alle Leichtverwundeten nicht zählt und von den Schwerverwundeten nur einen Teil. Diese Listen machen einen tiefen Eindruck in all ihrer Nüchternheit, wieder und wieder quält uns das Wörtchen "tot" hinter einem Namen. Auch wer keinen nahestehenden Menschen unter den Aufgezählten findet, wird die Liste nicht ohne Bewegung lesen. Das kommt, weil es einzelne Namen sind. Es ist ganz anders, wenn es heißt 500 Tote, 2000 Tote. Diese 1000, 2000 sind ja lauter einzelne Menschen. Von einer Mutter mit Schmerzen geboren, von den Eltern froh begrüßt, herangewachsen jeder in seiner Weise, ausgebildet für Arbeit und Lebensberuf. Jeder ein Mensch mit Plänen und Zielen, mit seinem Pflichtenkreis, seinem Sorgen, seinem Lieben. Menschen wie wir, zum Leben geboren wie wir, am Leben hängend wie wir, ein Leben für sich, eine Persönlichkeit wie wir. Und hinter ihren Namen stehen die gleichen drei Buchstaben: tot. Länger und länger werden die Listen, wie viele mag der gestrige Tag hingerafft haben? Wir lesen die Listen, Namen um Namen; das sind lauter einzelne Menschen, und all diese Menschen sind nicht einer übermächtigen, unvorhergesehenen, unausweichlichen Naturgewalt erlegen wie bei einem Erdbeben, sie starben im Regen der mörderischen Kugeln und Granatsplitter.
Welch ein greller Gegensatz zu unserer sonstigen Einschätzung des Lebens, welch ein vernichtendes Urteil über unsre angestrengten Bemühungen, ein einziges Leben zu erhalten. Es war uns sonst nichts wichtiger als die Erhaltung des Lebens. Wie viel Kraft und sorgende Bemühung verwandten wir darauf, einen kranken Menschen der Todesnähe zu entreißen. Ungeheure Summen wurden ausgegeben für Krankenhäuser, Sanatorien, gesundheitliche Einrichtungen. Mit höchster Spannung verfolgen wir die Fortschritte ärztlicher Wissenschaft in der Bezwingung der Krankheiten; wer ein Leben rettet, erntet höchsten Ruhm und Dank; wer uns ein Mittel verspricht, das Leben auch nur um ein paar Jahre zu verlängern, der findet überall Gehör. Und wie viele sehen allein darin ihre Lebensaufgabe, einem alternden Menschen den Tod von der Schwelle zu scheuchen.
Nun aber, was wir so im einzelnen gespart und verteidigt haben, das werfen wir nun in Massen hin, als wäre es nichts. Das Leben nichts? Was haben wir denn mehr als das? Was haben wir noch, wenn wir das Leben verloren? Ist nicht der Krieg nichts als ein entsetzliches Unglück, da er so viele Menschenleben verschlingt? Ist es nicht Wahnsinn, egal aus welchem Anlaß, so das Letzte hinzuwerfen?
@ Otto Zurhellen (1877-1914)