Sonntag, 13. März 2022

Der Kampf um den Frieden

 


Sonntag, den 16. August 1914

Der Krieg schafft ungewohnte Verhältnisse, wir spüren es auf Schritt und Tritt. Grundsätze des geschäftlichen, öffentlichen Lebens, die sonst jedem geläufig waren, scheinen jetzt vielfach undurchführbar, man muss suchen, wie man auf andere Weise mit den Anforderungen des Tages fertig wird. Es ist so vieles entwertet, was sonst galt. Interessen sind wie ausgelöscht, die uns sonst fast ausgefüllt haben. Eigenschaften treten zurück, die sonst von allen geschätzt und bewundert wurden. Der Krieg schafft eine ganz andere Atmosphäre. Zum gründlichen Überlegen und Durchdenken scheint keine Zeit, man muss handeln; nicht abwägende Bedächtigkeit, sondern kraftvolle Leidenschaft tut not. Wir fühlen das Große in dieser neuen Zeit: so viel Kleinlichkeit, schwächliche Bedenklichkeit fällt weg. Die Menschen raffen ihre Kraft zusammen und erscheinen größer, als sie sonst wohl waren. Aber es ist die große Gefahr in solchen Kriegszuständen, solchen Ausnahmeverhältnissen, dass Ideale einfach aufgegeben werden, weil sie zu den Tatsachen der Gegenwart nicht stimmen, dass sittliche Grundsätze weggeworfen werden, die unser Wesen doch bestimmen sollten. Der Krieg ist wie eine große Schmiede, in der mit dem Hammer der Not Menschencharaktere geschmiedet werden, Willensfestigkeit und Zähigkeit wie Eisen und Stahl. Das ist der Segen des Krieges. Aber der Krieg ist auch wie eine Sturmflut, die wilden Wellen rollen an gegen das Menschenlos, das hinter Dämmen friedlich wohlgeordnet ruht, und wenn die Dämme brechen, ist alles verwüstet, was zähe jahrelange Arbeit angebaut hat. Schlamm, Geröll und Steine lässt die Flut zurück. Da gilt es, die Dämme zu schützen. Es ist jetzt auch vielen klar geworden, dass es Wahnsinn gewesen wäre, unsere Rüstung zu vernachlässigen, und viele von den Parteivertretern werden jetzt froh sein, dass sie mit ihren Abrüstungstheorien nicht durchgedrungen sind, dass man gegen ihren Willen doch das Heer und die Flotte vergrößert, Schiffe und Kanonen angeschafft hat. Jetzt ist auch das Murren verstummt über die unerträgliche Last der großen Wehrsteuer, und mancher schämt sich, dass er das Opfer nicht gern gegeben hat, jetzt, da die Ereignisse beweisen, wie sehr es nötig war. Lasst uns keinen Augenblick vergessen, dass wir für den Frieden kämpfen, für eine Lebensgemeinschaft der Völker. So viele Verbindungen hat es in dieser Gemeinschaft gegeben: Freundschaft, Verwandtschaft, Gemeinsamkeit der Wirtschaft und der Wissenschaft, der religiösen und sittlichen Ideale. Was davon bestanden hat, ist jetzt in Gefahr, vernichtet zu werden. Es darf nicht vernichtet werden! Wir müssen alles daran setzen, soviel an uns liegt, diese Verbindungen zu retten in eine bessere Zukunft, und darum müssen wir verhindern, dass dieser Krieg seelische Wunden schlägt, die nicht vernarben, dass er Abgründe aufreißt, die sich nicht mehr schließen. Wir sollten alles dafür tun, den Schrecken des Krieges nicht durch persönlichen Hass und harte Unmenschlichkeit zu steigern. Es ist auch im Krieg möglich, Frieden zu halten. Wollen wir wirklich den künftigen Frieden, dann lasst uns dafür sorgen, dass alle Fremden, die in unserem Land zu dieser Zeit leben, diesen Eindruck empfangen, dass wir die Guten sind, dass unser Christentum nicht aus Worten und Formen besteht, sondern in wahrhaft sittlicher Bildung. Sie sollen es sehen, dass auch der Krieg die sittlichen Grundsätze bei uns nicht zu durchbrechen vermag, dass auch im Krieg das Gastrecht uns heilig ist, dass wir keinen Augenblick zögern, auch beim Feind das Gute anzuerkennen. Es ist gut, dass der Krieg uns lehrt, uns auf unseren eigenen Wert zu besinnen. Aber kindisch ist die Art, wie jetzt alles bekämpft und weggeworfen wird, was uns an die Feinde erinnert. Selbst eigenartige Erzeugnisse fremder Arbeit und Kultur sollen nicht mehr nach ihrer Heimat benannt werden. Von Brüsseler Spitzen, englischen Stoffen und russischen Pelzen darf man nicht reden und sie nicht haben, allenfalls noch türkische Teppiche, weil die Türken noch zu uns halten. Vielleicht darf man bald nicht mehr Shakespeare aufführen, und sich für Tolstoi interessieren. Das alles ist nicht nur kindisch, das ist der blinde Hass und wahrlich kein Weg zum künftigen Frieden. Wir können den fremden Einschlag ertragen, weil wir selbst genug eigene Kraft haben. Es ist recht, den Sinn offen zu halten für das Gute, das aus der Fremde kommt. Denn wir glauben an eine Kulturgemeinschaft der Völker, auf der allein ein Völkerfriede sich aufbauen kann. Diesen Glauben soll der Krieg nicht zerstören, die Ansätze zu solcher Gemeinschaft soll er nicht niederreißen, darüber lasst uns wachen. Lasst den Hass sich nicht einfressen in die Seele. Die Phantasie gibt sich dem Hass hin und denkt sich aus, wie man es heimzahlen will. Das ist die selbstmordende Gefahr des Krieges, das ist das Gift des Hasses. Ich beschwöre euch, verwahrt die Seele gegen dieses Gift. Es ist schwer, nicht zu hassen, aber es muss gelingen, uns zu überwinden. So lasst uns alle Kraft zusammennehmen zu dem schweren Kampf gegen den Hass in uns, auf dass wir Böses mit Gutem überwinden.


@ Otto Zurhellen (1877-1914)