Donnerstag, 31. März 2022

Grabrede für einen Familienvater


Der Gott der Barmherzigkeit und des Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, sei mit uns in dieser bangen Stunde, und lasse uns auch an diesem so schmerzlich früh geöffneten Grabe, in Seinem allezeit guten Vaterwillen mit kindlicher Ergebung ruhen! Amen.

Es ist nur ein Gefühl, verehrte Trauernde, das die Herzen aller erfüllt, die dieses Grab umgeben, das schmerzliche Gefühl des Verlustes, der uns betroffen hat. Denn diese Gruft umschließt die entseelte Hülle eines Mannes, der uns allen so wert war, dessen unerwartet frühes Hinscheiden seine nächsten Angehörigen im Innersten verwundet hat, dem wir ein längeres Leben und Wirken im Kreise der Seinigen und in dem von Gott ihm angewiesenen Berufe so herzlich wünschten und von dem Herrn unserer Tage mit heißen Gebeten, ach! vergebens, zu erflehen suchten. Wie viel ist dieser Verewigte den Seinen gewesen! Wie viel der Gattin, der treuen Freundin und Gefährtin seines Lebens in frohen und traurigen Tagen, die jetzt, da des Todes Gewalt ihn so unerwartet schnell dahingerafft hat, das Entbehren seiner freundlichen und wohltätigen Gegenwart als eine Beraubung empfindet, die sie kaum zu fassen und zu ertragen vermag! Wie viel ist er seinen Kindern gewesen, in deren Mitte er sich so glücklich fühlte, in deren Wohlergehen er sein Glück und seine Freude suchte, die er mit jener freundlichen Milde, die ein hervorstechender Zug seines Gemüts war, durch Lehre und Beispiel zu allem Guten zu bilden strebte. Mit welcher Treue erfüllte er die Pflichten eines dankbaren Sohnes gegen eine verehrte Mutter, gegen die verehrten Schwiegereltern, so wie eines redlich gesinnten Bruders gegen seine Geschwister! Wie herzlich nahm er teil an ihren Freuden und Leiden! Wie eifrig war er bemüht, seinen Angehörigen alle Beweise seiner Zuneigung zu geben, und ihnen mit Rat und Tat zu dienen, so viel er konnte. Ach, und so frühe, im Laufe des fünfzigsten Lebensjahres, ist er nun seiner Familie entrissen, die an ihm mit inniger Zärtlichkeit hing, die ihre beste Stütze auf Erden mit ihm dahinrinnen sieht, die in ihren jüngeren Gliedern in so hohem Grade seiner Fürsorge und Leitung noch zu bedürfen schien. Mit den wehmütigsten Gefühlen, wie sie der Verlust des Liebsten und Teuersten in der Seele zurück lässt, blicken ihm daher seine Hinterbliebenen nach; und wenn es auch nur das Mitgefühl für fremde Leiden wäre, was uns in diesen Augenblicken bewegt, so müßte hier, wo es uns so nahe gelegt wird, mit den Trauernden zu trauern, eine schmerzliche Rührung uns ergreifen. 
Aber der Entschlafene, an dessen Gruft wir stehen, hatte auch außer dem Kreise seiner Familie, durch seinen freundlich wohlwollenden Sinn, durch die zuvorkommende Gefälligkeit und Dienstfertigkeit, die ihm eigen war, so manche Herzen sich gewonnen; und darum ist sein überraschend schneller Hingang auch für seine vielen Freunde und Bekannten ein schmerzlich fühlbarer Verlust. Auch in dem Kreise seines amtlichen Wirkens wird der Entschlafene sehr vermisst werden. Wie er von seinem Eintritt in die amtliche Laufbahn an mit treuem Eifer seine Zeit und Kraft den Geschäften seines Berufes widmete, und dadurch die volle Zufriedenheit seines Vorgesetzten sich erwarb: so wurde besonders seiner Tätigkeit in dem Wirkungskreise, in welchem er seit einer Reihe von Jahren sich bewegte, die allgemeinste, ehrenvollste Anerkennung zuteil. Mit menschenfreundlichem Sinn, und mit zarter Schonung aller Verhältnisse, behandelte er das Geschäft, zu welchem sein Beruf ihn verpflichtete, und das zu den schwierigsten gehören mag, die Auseinandersetzung und Ausgleichung von Erbschaftsrechten. Und wenn es nach dem Ausspruch des Apostels (Jakobus 1, 27) "ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist, die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal zu besuchen": so gebührt unserm Entschlafenen der Ruhm, ein unermüdet treuer Diener des Herrn in dieser Hinsicht gewesen zu sein. Denn wie vielen Waisen und Witwen ging er in ihrer Trübsal auf das freundlichste mit Rat und Tat an die Hand! Mit welch uneigennützigem Eifer nahm er sich ihrer an! Mit welcher Sorgfalt, als wäre es seine eigene Angelegenheit, pflegte er ihre Sache zu führen! Ein bleibendes Denkbal hat er sich dadurch in vielen Herzen gestiftet, und sein Name wird noch lange mit dankbarer Liebe und Hochachtung unter uns genannt werden.
Mit Anstrengung aller seiner Kräfte rang er nach treuer Erfüllung seines Tagewerkes; und manche Stunde, die er ohne Bedenken der Ruhe und Erholung hätte widmen dürfen, sah ihn in den Geschäften seines Amtes, oder in der Besorgung fremder Angelegenheiten rastlos tätig. Und auch, als er den Tod schon in sich trug, und ein Gefühl von Erschöpfung seiner Kräfte sich ihm mächtig aufdrang, fuhr er dennoch in seiner Arbeit fort, bis ihn ein überraschender Tod den Seinigen und seinem Berufe entzog, und allen seinen Erdenfreuden, wie seinen Erdenmühen und Sorgen ein Ziel setzte. 
Warum - so fragt im Blick auf diese Gruft der Schmerz - warum denn musste ihm, dessen Leben für seine ganze Familie von so hohem Werte war, der die Liebe und das Vertrauen so vieler genoss, der noch so manches Jahr - wie es uns dünken will - in der Mitte der Seinigen und in seinem amtlichen Berufe im Segen hätte wirken können, warum musste ihm schon jetzt das Grab sich öffnen? Und, wenn ihm nun doch das Ziel seines irdischen Wirkens so früh gesteckt war: warum denn unter so beklagenswerten Umständen, durch welche die angestrengtesten, treuesten Bemühungen, die zur Fristung seines Lebens geschahen, vereitelt werden mussten, und unter welchen es den Seinigen nicht einmal vergönnt war, den letzten Abschied von ihm zu nehmen? -- Im Rate des Allmächtigen, der über Tod und Leben gebietet, und ohne dessen Willen kein Haar von unserm Haupte fallen kann, war es so beschlossen, dass unser Entschlafener schon jetzt und unter diesen Umständen seinen Lauf unter uns vollenden sollte. Wir fragen: warum? Und fragen vergebens. Unser kurzsichtiger Blick dringt in dieses tiefe Dunkel nicht ein. Eines aber wissen wir, und dieses Eine halten wir auch an diesem Grabe fest mit lebendigem Glauben, mit frommer, kindlicher Zuversicht, an diesem Einen richten wir uns auf, durch dieses Eine fühlen wir uns wunderbar gestärkt und erhoben. Es ist das Wort, das unser göttlicher Erlöser mit Seinem Blute uns bekräftigt hat, das große evangelische Wort: "Gott ist die Liebe!" die weiseste, treueste, erbarmungsvollste Liebe,  d i e  Liebe, die, ob auch unbegreiflich in ihren Wegen, doch alles wohl macht, alles zu einem seligen Ziele lenkt und herrlich hinausführt.
Ja, der Vater und Herr deines Lebens, der auch der Deinigen Vater ist, hat dich gerufen, teurer Verewigter! Auch dein früher Hingang, wenngleich wunderbar vor unsern Augen, ist ein Werk Seiner heiligen Liebe. Er hat dich gerufen, weil Er dich reif fand, für eine höhere und bessere Welt, weil Er dir, nachdem du im Geringeren Treue bewiesen hattest, das Größere und Herrlichere, das Wahrhaftigere und Ewige anvertrauen wollte; Er hat dich gerufen, Er, der gerecht ist in allem Seinen Tun und heilig in allen Seinen Wegen, Er, der allein bestimmen kann, wann für jedes Seiner Kinder die rechte Zeit und Stunde gekommen ist, von diesem Schauplatze unserer irdischen Tätigkeit abzutreten.
O, schon jetzt, während Deine Hinterbliebenen in schmerzlicher Sehnsucht trauern, erkennst du die heiligen Ratschlüsse Gottes in höherem Lichte, und betrachtest dein frühes und für uns so beklagenswertes Scheiden aus dieser Welt nicht als eine Verkürzung, sondern als einen unverdienten Beweis der ewig beseligenden Liebe unseres Gottes. Und auch über den Deinigen, die du auf Erden zurückließest, denen du im Schlummer, ohne die Bitterkeit des Scheidens zu empfinden, entrückt wurdest -- auch über ihnen siehest du die göttliche Gnade walten für und für; du weißt es mit der frohesten Zuversicht, dass Gott sie nie verlassen, nie versäuen, dass Er ihnen ein treuer Gott und Vater, eine Stütze, die nimmer wankt und nimmer weicht, sein wird; du siehst sie geborgen, die Teuren alle, die du mit so treuer Liebe umfaßtest, geborgen unter den Flügeln der göttlichen Allmacht und Liebe, und mit seliger Hoffnung blickst du auf ein wonnevolles Wiedersehen hin, wann auch sie, nach wohlvollbrachtem Lauf, nach treuem Wirken, Dulden und Kämpfen in die himmlische Heimat dir nachfogen dürfen.
Segen über dich, du Vollendeter! Du hast hier mit wohlwollendem, menschenfreundlichem Sinne manche edle Saat ausgestreut; du wirst jetzt dafür ernten ohne Aufhören. Segen über deine verwaisten, aber nicht verlassenen Kinder! Der Vater der Waisen und der Richter der Witwen wird das, was du so vielen dieser Bedrängten Gutes getan, in reichem Maße deinen Hinterbliebenen zu vergelten wissen. Gott ist der Schutz des Hauses der Redlichen: das glauben wir mit fester Zuversicht, und zweifeln darum nicht, daß Er es, auch um deinetwillen, deinem Hause noch ferner wohl gehen lassen werde. Ja, das wirst Du tun, himmlischer Vater! In Deine treuen Hände übergeben wir den erlösten Geist des teuren Entschlafenen. Wie Du ihn während seines Pilgerlaufes geleitet hast mit väterlicher Liebe und Treue: so verherrliche nun auch Deine Gnade an ihm in alle Ewigkeit. Laß Deinen Segen von dem Hause nicht weichen, dem Du den redlichen Gatten und Vater so frühe entzogen hast. Stärke seine trauernden Angehörigen, daß sie als solche trauern, die einen ewigen Trost, und eine selige Hoffnung haben, und laß sie in ihrem Lohne inne werden, daß Du ein Gott des Friedens bist für alle, die auf Dich trauen, und mit kindlicher Ergebung sich beugen unter Deinen heiligen Willen. Laß die Witwe des Entschlafenen in der treuen Liebe der Söhne und der Töchter, und in dem Segen, womit Du die Erziehung ihrer jüngeren Kindern begleitest, einen schönen Ersatz und Trost finden, für den schweren Verlust, der sie betroffen hat. Stärke besonders die Söhne, sich in allen Stücken würdig zu zeigen des Vaters, der ihren Augen nun entrückt ist, aber den ihre Herzen nimmer sich entrücken lassen mögen. Laß die Hinterbliebenen des Entschlafenen auf ihrem ferneren Lebensgange recht viele frohe Erfahrungen von dem Segen machen, den ein rechtschaffener Vater auf seine Familie vererbt. Und das Andenken an den wohlwollenden, dienstfertigen, berufstreuen Sinn des Entschafenen laß uns allen ein Antrieb werden, nach demselben Ruhm zu streben, der das schönste Denkmal eines Verstorbenen ist. Hilf auch uns unser Tagewerk mit frommer Treue zu verrichten, unseren Lauf im Glauben und in der Liebe zu vollenden, und, wenn auch unser Stündlein schlägt, mit Freuden eingehen in unser himmlisches Vaterland. 
Deine Gnade in Christo Jesu sei mit uns allen hier und dort, in Zeit und Ewigkeit. Amen!


© gesprochen von Herrn Amtsdekan Klemm, veröffentlicht 1840