Freitag, 11. März 2022

Carpe diem!

 

Im goldenen Zeitalter des Augustus lebte zu Rom ein Dichter mit Namen Quintus Horatius Flaccus. Wenn er an sonnigen Sommertagen im Schatten der Eiche lag, ein gutes Tröpflein vorsichtig schlürfend und eine kleine poetische Bosheit mit leisem Schmunzeln und mit spitzen Fingern skandierend, dann kam zwischendurch wie eine lästige Mücke der Gedanke, daß alles doch ein Ende habe: der Wein und die Poesie und selbst das Leben. Dann schüttelte er betrübt sein Dichterhaupt, das noch zuweilen schmerzte, seitdem ein morscher Baum ihn im Fallen getroffen hatte. Diesen Unfall hatte er der Nachwelt in unsterblichen Versen überliefert, denn eine gute Biene saugt Honig aus allen Blüten. Läßt sich nicht auch der Todesgedanke poetisch verwerten? Schon tönt die gemessene Klage:

O weh, wie gleiten die flüchtigen Jahre!

Auch eine Lehre kann man ziehen, wie es dem praktischen Römer ziemt: Carpe diem!

Pflücke den Tag und traue dem kommenden nicht! Kränze dein Haupt mit Rosen, sie welken so bald, und schlürfe den Wein, denn keinen Becher kredenzt dir der Tod! Genieße das kurze Leben! Das ist seiner Weisheit letzter Schluss. Das lehrt ihn der Tod, den kleinen Quintus Horatius Flaccus.

Eine arme Weisheit. Wird der Wein nicht schal im goldenen Becher, wenn der Tod dir hinter dem Rücken steht und über die Schulter schaut? Wird deine Hand ihn nicht verschütten, wenn sie greift mit gieriger Hast, voller Angst, daß die Knochenhand ihr vorgreifen möchte?

Der Tod ist kein Gewürz, um die Lust des Lebens zu würzen. Sein Salz ist viel zu bitter. Und deine Weisheit ist Torheit, du kluger Quintus Horatius Flaccus!

Genauso schildert uns das Buch der Bücher die hilflose und haltlose Lebensweisheit der Toren:

"Auf, lasset uns sehen, was des Guten ist, genießen, und benutzen, was geschaffen ist, solange wir noch jung sind!

Lasset mit köstlichem Weine und mit Würzen uns sättigen, und keine Frühlingsblume soll uns entgehen!

Kränzen wir uns mit Rosen, ehe sie verwelken; unsere Lebenslust soll jede Flur durchstreifen!"

So denken sie und gehen irre ---

Carpe diem --- pflücke den Tag und traue dem nächsten nicht! -- O arme, wilde, vom Tode gehetzte Lust!

Diese heidnische Lebensweisheit erwachte wieder in der Renaissance. Boccaccio erzählt, daß zur Zeit, als die Pest in Italien wütete, eine Schar von vornehmen Männern und Frauen die Stadt verließ und sich auf ein Landgut begab, um dort in Lust zu leben, während draußen der Würgengel umging. Sie würzten ihre üppigen Gelage mit leichtsinnigen Geschichten voll heidnischer Sinnenlust und mußten doch jeden Augenblick erwarten, daß der grause Würger auch an ihr Tor pochen würde. Ist das Heldenmut und Lebenskraft? Entweder ist es Frevelmut oder feige Schwäche, die sich betäuben möchte.


@ Augustin Wibbelt (1862-1947)