Freitag, 16. Oktober 2020

Mein totes Kind

 


Mein Kind, das früh geschieden,

goldlockig, hold und klein,

oft nahst du jetzt der Müden,

längst sank dein Hügel ein.


Nie hab' ich dich vergessen.

Die andern wurden groß,

du aber unterdessen

bliebst klein auf meinem Schoß.


Oft unter Sturm und Schmerzen

im heißen Mittagslicht,

verblich in meinem Herzen

dein süßes Angesicht.


Doch jetzt beim Abendfrieden

wie neu erwacht eilst du,

mein Kind, das früh geschieden,

der Mutter wieder zu.


Wie selig sind wir beide!

Ich fühl' dein Ärmchen rund,

der Locken blonde Seide,

den lieben, kleinen Mund.


"Sie ließen dich alleine,

mein armes Mütterlein,

ich aber, deine Kleine,

ich will nun bei dir sein."


Auf deinem Grab die Rosen

schaukeln im Abendwind,

indes wir heimlich kosen,

mein süßes, totes Kind.


(c) Pauline Schanz (1828-1913)