Samstag, 20. Oktober 2018

Geknickte Blüten


Wer stirbt leichter als ein Kind?
Was ist rührender als das Sterben eines Kindes?

Aus Gottes Hand ist die junge Seele gekommen. Kaum war sie eingewurzelt im Erdenlande, kaum fing sie an zu knospen und zu blühen zum Entzücken der Eltern, die jede neue Regung belauschten, da trat der Tod heran und knickte die liebliche Blüte, ehe sie ihre ganze Schönheit entfalten konnte. Vielleicht muss das junge Leben leiden im Tode; der größte Schmerz aber wird den Eltern zugeteilt. Sie sind stärker, sie können und sollen es tragen. Sie sind es, die den Tod nahen sehen, die mit klopfendem Herzen und verhaltenem Atem lauschen, ob der letzte Augenblick schon gekommen ist. Das junge Wesen hat noch kein Verständnis für den Ernst der Stunde; es lässt über sich ergehen, was da kommen will, und ehe es recht zum Bewusstsein erwacht ist, ward der letzte Schritt schon getan. Physisches Leiden ist ihm vielleicht nicht erspart geblieben, dem knospenhaftem Menschenwesen, aber von Seelenangst wurde es nicht berührt. Es wurde hinübergetragen in die Ewigkeit und erwachte aus seinen Fieberträumen im Lande des Lichtes in den jubelnden Reigen der seligen Engel, ehe es die Bitternis des Lebens gekostet und erfahren hatte, was Schuld ist. Wer stirbt leichter als ein Kind? Es gleitet hinüber, es schwebt hinüber, denn es ist unbeschwert und hat verborgene Engelflügel.

Und doch. Was ist rührender als ein sterbendes Kind? Da liegt das kleine Wesen und kann nicht leben und muss leiden - und hat doch nichts verbrochen und ist so blütenweiß und rein! Die Eltern ringen die Hände, und es möchte wie Groll aufsteigen in ihrem Herzen: warum soll die junge, unschuldige Seele leiden? Wer ist es, der sie quält, sie, die noch nichts Böses tun konnte? - O, ihr Lieben, leiden und unschuldig sein, das ist das Schlimmste nicht. Wisst ihr auch, wovon das kleine leidende Wesen Zeugnis gibt? Von einem großen, unbegreiflichen Geheimnisse, von der Erbsünde, in die das ganze Geschlecht Adams verstrickt ist. Die Erbsünde ist getilgt in der Taufe, die Erbstrafe ist nicht völlig hinweggenommen, und auch das kleine Wesen soll seinen Teil tragen. Gönnt es ihm, denn es ist eine Gnade. Das Leiden adelt. Seitdem der Sohn Gottes das Kreuz auf sich genommen hat, adelt es doppelt. Gönnt dem kleinen Wesen ein Stücklein des Kreuzes! Beten und arbeiten kann es noch nicht; alles, was es kann, ist leiden. Das ist das erste, was die Seele tun kann, wenn sie ins Leben getreten ist; das ist das Opfer der Morgenfrühe und das Opfer des Abends - leiden! Und nochmals sei es gesagt: Da Jesus Christus gelitten hat, ist dem Kreuze eine königliche Würde gegeben worden. Und nichts ist zwecklos, was der Herr fügt und anordnet; auch das Leide des sterbenden Kindes wird seine Frucht tragen.

Doch trotz allem! Es schneidet ins Herz, ein kleines, zartes, unschuldiges Kind leiden zu sehen. So laß dir auch dies noch zum Troste sagen, dass das unreife, noch nicht völlig gekräftigte und geklärte Bewusstsein die ganze Schwere des Leidens nicht empfinden kann; nicht in den Krämpfen und Zuckungen des Körpers ist das Maß des Leidens zu suchen, es liegt in der Seele, im klaren Bewusstsein des Geistes. Der schwachen Kraft wird nicht mehr aufgebürdet, als sie tragen kann. Gerade in die Schwäche hat der Herr einen Schutz gelegt; auch die Ohnmacht ist ein Panzer.

Geknickte Blüten, wer trauert nicht um sie? Wenn der kleine weiße Sarg in der dunklen Grube verschwindet, dann versinken mit ihm so viele süße Hoffnungen. Sonst begräbt man mit dem Toten liebe Erinnerungen, hier wird die Hoffnung mitbegraben; die Erinnerung ist ja dem Tode geweiht, die Hoffnung aber möchte leben.

Nein, die Hoffnung wird nicht mitbegraben, nicht die ganze, nicht die schönste, nur eine irdische Hoffnung. Das junge Wesen ist nicht umsonst ins Leben getreten; was hier nicht zur Vollendung kam, kann droben zu schönerer Blüte sich entfalten. Es ist ja durch den Tod eingegangen in das Leben, und das Leben ist Fortschritt, Entwicklung, Aufstieg zur Höhe. Was uns hier sobald genommen wurde, dass wir es kaum besessen haben, das ist uns nicht ewig verloren. Dort oben ist das Land des Wiedersehens, das keine Trennung mehr kennt.

Hast du ein Kindergrab auf dem Kirchenhofe, so pflanze Immergrün darauf; grün ist die Hoffnung, und immergrün soll deine Hoffnung sein. Am Grabe eines Erwachsenen kann Furcht und Sorge sich einstellen; hier darf nur die Hoffnung blühen.



(c) August Wibbelt (1862-1947)