Ewiger Gott! Kaum ist das Grab geschlossen, in welches ein teures Opfer, das Du von Elternherzen fordertest, niedergesenkt worden ist, so hat sich schon wieder ein zweites Grab geöffnet, um ein zweites Opfer zu verschlingen, das tiefgebeugt dieselben Eltern Dir hier darbringen! Ach, lass es uns nicht vergessen, dass Du es bist, der diesen schweren Gang uns gehen heißt, dass Du es bist, der den teuren Vollendeten zu sich rief, an dessen Grabe wir hier weinend stehen, lass uns in dem Glauben an Dich, an Deine ewige Vaterliebe den Trost finden, nach dem unsere Herzen sich sehnen, dass wir, wenngleich aus beklommener Brust, doch auch an dieser Stätte der Trauer ausrufen: "Herr, es gescheh' Dein Wille!" Amen.
Dieser Ausruf, trauernde Freunde! - "Herr, es gescheh' Dein Wille!" will uns unter den Kämpfen und Leiden des irdischen Lebens oft so sauer ankommen, weil wir, so lange wir diese verwesliche Hülle an uns tragen, die Wege des Herrn so oft nicht begreifen, seinen Willen so oft nicht verstehen. Und wo sollte der heilige Wille unsers Gottes uns unverständlicher sein, wo jener ergebungsvolle Sinn uns schwerer werden, als wenn er die Geliebten uns entrückt, an deren Seite uns jede Freude süßer, jeder Kummer leichter wird, in deren Liebe uns für so manche trübe Stunde, die der Umstände traurige Verkettung hienieden herbeiführt, reichen Ersatz und zur Ertragung so manchen Ungemachs wohltätigen Trost finden! Fühlen wir uns alsdann nicht versucht, ein fragendes WARUM? zum Himmel hinaufzusenden? - Warum, o ewige Weisheit! Warum dieser harte Schlag? Warum soll der Tod in unserm freundlichen Kreise so schmerzliche Lücken reißen, die kein Erdenglück uns wieder ausfüllen kann? Warum müssen sie so bald sich aneinander reihen auf diesem Totenfelde, die Deine Güte uns verliehen und deren Besitz uns mit der reinsten Wonne und mit dem lebendigsten Danke erfüllt hat? - Warum müssen sie uns so bald verlassen, die mit einem Herzen voll Liebe unsere Tage beglückten, und unsers Alters Trost und Stütze zu werden schienen? - So werdet auch ihr, von tiefem Schmerzgefühle ergriffen, jetzt fragen, trauernde Eltern des verblichenen Jünglings, dessen Hülle wir soeben in die Erde, von der sie genommen ist, niedersenkten. Ach! Es tut dem Vater und dem Mutterherzen schon so wehe, Lieblinge sich entrissen zu sehen, deren geistige Anlagen noch im Keime verborgen liegen; wie viel weniger lässt sich dem Schmerze gebieten, wenn diese Lieblinge des Elternherzens die Blüten ihres Geistes und Herzens auf eine erfreuliche Weise zu entfalten begannen, und die Sorgen der Liebe durch Reinheit des Sinnes und durch einen unbescholtenen Wandel zu lohnen versprachen! Ach! Lasset sie fließen, eure Tränen um den Entschlafenen, er ist ja eurer Tränen wert, der teure Sohn, der von dankbarer Liebe zu euch geleitet, die leichtsinnigen Pfade, auf denen die unbesonnene Jugend so gerne wandelt, nicht betrat, der seinen himmlischen Vater und seinen Erlöser nicht nur kannte, sondern auch seiner bessern Erkenntnis gemäß sein Leben Ihm zu weihen, schon frühe sich bestrebte! Hat er doch euch Ehre und Freude gemacht durch stille Arbeitsamkeit und willigen Gehorsam, Ehre und Freude auch durch die Geduld und Standhaftigkeit, mit der er die Schmerzen ertrug, unter denen, von einem verzehrenden Gifte ergriffen, seines Geistes unzerstörbar scheinende Hülle allmählich der Auflösung entgegen reiste. War es ihm doch ein willkommener Trost, den am letzten Tage vor seinem Dahinschlummern, seinem an Christum seinen Erlöser, dahingegebenen und in ihm allein Ruhe suchenden Herzen, der Genuss des heiligen Abendmahls gewährte! Darum sagte ich: lasset eure Tränen fließen! - Aber Freunde! Könnet ihr auch die Frage beantworten, warum seines Lebens Ziel so kurz gesteckt ward, warum er, der in Liebe noch lange auf Erden zu wirken bereit war, eurem liebenden Kreise jetzt schon entrückt werden musste, warum die frische Wunde eurer Herzen durch dieses zweite Opfer, das der Herr von euch fordert, aufs Neue aufgerissen werden muss? Das sind Wege des unerforschlichen Gottes! Die einzige Antwort ist die, die euer Glaube euch gibt: "Was Gott tut, das ist wohlgetan!" - Diese ewige Wahrheit, dass der Vater im Himmel uns nur auf solchen Wegen führt, die zu unserm ewigen Heile dienen, dass ALLES, was Er über uns verhängt, auch das Bitterste selbst, ein Ausfluss seiner heiligen Liebe ist, - diese ewige Wahrheit hat sich gewiss auch in eures Lebens Gang schon vielfach bewährt, denn so wechselnd auch ein Menschenleben ist, Gottes Liebe bleibt immer und ewig dieselbe, auch wenn sie auf rauhen und dunkeln Pfaden uns zu unserer Verherrlichung führt. Habt auch ihr diese Wahrheit schon erfahren, wie solltet ihr euch nicht beugen unter die freilich schwere, aber doch liebevoll leitende Hand Gottes, wie solltet ihr Ihm nicht gerne den Sohn zurückgeben, den er euch geschenkt! Wie solltet ihr jetzt nicht mit glaubensvollem Sinn ausrufen: "Herr, es geschehe Dein Wille!" - Wisset ihr doch, es ist ein Vater, euer, eures geliebten Sohnes Vater, dessen Wille jetzt geschehen, dessen Wege ihr mit frommer Geduld jetzt wandeln sollet. Es ist der Vater im Himmel, der ihn euch entrückt hat, denn, Freunde! - nicht hier unten in der finstern Grube ist der Entschlafene, den ihr beweinet, zu suchen, dort oben über den Sternen in einer höheren Welt weilt jetzt sein für den Himmel so frühe gereifter Geist, dort oben, wo seiner Schwester Geist ihn, den so bald Nacheilenden, willkommen heißen wird im heiligen Bunde himmlischer Liebe, wo er sich reihen wird an die Geister schon früher vollendeter Geschwister, die die göttliche Erziehungshand im unsichtbaren Erziehungshause für das höhere Leben liebevoll erzog! Dort wird sein entfesselter Geist nicht klagend fragen: "Warum?" - im Lichte wird er dort erkennen, was er hier nur glauben konnte, aber was er auch glaubte im Hinblick auf den, der für uns am Kreuze blutete, erkennen wird er dort, dass die Wege des Herrn durch Leiden zur Herrlichkeit führen. O wohl uns, meine Freunde!, dass wir durch Christum wissen, wohin unsere Lieben gehen, wenn sie der Herr von unserer Seite hinwegrafft, dass wir das Ziel kennen, zu dem der Weg führt durch des Todes finstres Tal! Denn wer da glaubet an Ihn, der wird leben, ob er gleich stürbe!
"Hättet ihr mich lieb", sagt der Erlöser zu seinen Jüngern, "so würdet ihr euch freuen, dass ich gesagt habe: ich gehe zum Vater!" Mit diesem Glauben, dass er zum Vater gehe, ist der Vollendete entschlafen, darum rufe ich euch zu: "Habt ihr ihn lieb, so werdet ihr euch freuen, dass er zum Vater ging, den jetzt seine Seele preisen wird, dass Er ihn erlöst hat von den Banden seines leidenden Körpers."
O so erhebet auch ihr eure bekümmerten Herzen im Glauben an den Vater und sprechet mit frommer Ergebung: Siehe, hier hast Du ihn, den Du uns gegeben hast! Zum Vater sollen wir alle einst kommen, beim Vater werden wir sie wiederfinden, unsere Geliebten, die vor uns hingegangen sind! Beim Vater ist keine Trennung mehr und kein Schmerz und kein Tod! - Kränze, nicht vergänglich, wie diese hier, die wehmütig zarte Liebe flicht, Kränze, die nicht verwelken, blühen dort beim Vater, dem frommen Dulder! O süßer Trost, den an den Gräbern unser Glaube uns gewährt, erquickende Hoffnung, mit der wir von dieser Stätte der Trauer unsere Blicke erheben zu einer höhern, bessern Welt! O lasset uns nicht murren, wenn durch Leiden und durch Kummer die ewige Liebe uns für jene Welt erzieht, lasset uns nicht klagen, wenn unseren Herzen hier Wunden geschlagen werden - es gibt eine Welt, in der die verwundeten Herzen geheilt werden, und in diese Welt kennen wir den Weg - der Weg ist Christus!
Ja, Vater, wir beugen uns in Demut vor Dir, unerforschlich, aber weise und gut ist Dein heiliger Wille! O tröste Du die trauernden Eltern mit dem Troste Deines Evangeliums, richte Du sie auf in diesem Jammer ihrer Liebe, trockne Du ihre Tränen, Vater der Liebe! Und lehre Du sie, lehre uns alle, wie Christus beten:
"Herr, nicht mein Wille, Dein Wille geschehe!"
Amen.
(gehalten von Herrn Vikar Reuffer)