Montag, 2. November 2015
Weine über dich
"Weinet nicht über die Toten, und grämet euch nicht darum." (Jer. 22,10)
Wer ist mehr zu beweinen? Die noch im gefahrvollen Meer fahren und von den Stürmen und Wellen herumgeworfen werden, oder die, welche schon in dem Hafen der ewigen Ruhe glücklich angekommen sind und das bessere Land erreicht haben?
Die Toten, die im Herrn starben, sind zu beneiden, nicht zu beweinen, denn sie haben erreicht und erlangt, was wir noch mit Gefahr erwarten. Darum ist der Christ gern auf Gottesäckern, die mit Recht diesen schönen Namen tragen, weil da der Same der sterblichen Leiber ausgestreut liegt, dass er ersterbe und dann auferstehe, mit verjüngter Schönheit und Unsterblichkeit. Die Stille, in der die entschlafenen Brüder liegen, hebt das Gemüt hinüber über Grab und Zeit, in die selige, stille Ewigkeit, wo aller Krieg der Leidenschaften, wo alle Unruhe, die den Frieden Gottes stören könnte, ein Ende hat. Geh doch, Lieber, an keinem Gottesacker vorbei, ohne deine entschlafenen Brüder zu besuchen, ohne dich bei ihren Schlafkammern den Gedanken, die sich dir ja von selbst aufdringen werden, zu überlassen. Weine da, aber ja nicht über sie, sondern wenn 's dir weinerlich ist, weine über dich und deine noch pilgernden Brüder. Den selig Heimgegangenen aber schaue mit Sehnsucht nach. Strecke deine Hände aus nach dem Unsichtbaren und ergreife das ewige Leben, das über dem Grabe liegt, und fasse davon in dein Herz auf, so viel du davon hier fassen und aufnehmen kannst. Man sieht Morgendämmerung und spürt Frühlingsluft auf den Gräbern: und das soll sehr gesund sein ..."
(Johannes Goßner, 1773-1858)