Mittwoch, 25. November 2015

Lauter Gräber ringsum



In tiefen Schmerzen sind uns wohlmeinende Menschen oft eine Hinderung; sie verletzen uns leicht durch die Art und Weise, mit der sie unsren Schmerz zu lindern suchen. Das Leid über einen geliebten Toten ist ein so geheimnisvolles, dass es von anderen selten ganz verstanden werden kann, und viele Worte verträgt es am wenigsten. Dem wunden Herzen ist die Einsamkeit ein wohltuendes Bedürfnis, und wo möchte es lieber verweilen, als an der Stätte, wo die Toten schlafen? Es gibt ein heiliges Recht des Christen, sich hier der Liebe zu den Heimgegangenen lebendig bewusst zu werden, und das Band einer fortdauernden inneren Gemeinschaft mit ihnen aufs neue zu knüpfen, denn das Wort Gottes lehrt uns in geheimnisvoller Weise diese Leiber als heilige Saatkörner anschauen, die einst zu neuem Leben aufzuwachen berufen sind. Darum gehen wir so gerne auf den stillen Friedhof, und sinnen über dem großen Geheimnis der einstigen Auferstehung.

Wir stehen hier stille; wir schauen umher: lauter Gräber ringsum; wir stehen in einer neuen Welt voll Schlafender. Da ruht ein ganzes Geschlecht, das einst in unsren Häusern wohnte, auf unsren Straßen und Gassen wandelte, das mit seinem Leben unsre Stadt, unsre Kirchen und Schulen, unsre Paläste und Hütten erfüllte; da schlafen sie nun, die einst im Leben gearbeitet, gesorgt, geweint und gejauchzt, die gefürchtet, gehofft und wohl auch gebetet haben; jetzt ist der Gang ihres Lebens zum Stillstand gekommen; die unruhigen Wogen des Außenlebens dringen nicht mehr hinab in ihre stille Kammer; Gewinn und Verlust erfreut und betrübt sie nicht mehr. Im Leben waren sie vielfach getrennt, Reiche und Arme, Hohe und Niedere, Herrschende und Dienende; kaum wusste einer von des andern Dasein: der Tod hat sie zusammen gebettet; ihrer aller Gebein, aus Erde geworden, hat schon angefangen, sich zur Erde wieder aufzulösen.

Aber wir bleiben hier bei dem allgemeinen Eindruck stehen. Hier ist eine Stätte, zu der es uns ganz besonders hinzieht; hier ruhest du, mein geliebtestes Kind, du mein Gatte, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester; wie warst du mir so lieb und wert, als dein Auge mich noch anblickte; wie unendlich beglückt fühlte ich mich durch dein Dasein; ach, wie oft habe ich 's an der Liebe zu dir fehlen lassen, und wie viel treuer wollte ich dich lieb haben, wenn du  mir noch auf Erden angehörtest; aber ich weiß, du wirst wieder leben, und ich werde ewig mit dir verbunden sein vor dem Angesicht Gottes!

Aber ich gedenke an dieser Stätte nicht bloß der Meinigen; wie mancher ist unter diesen Schlafenden, den ich kannte, den ich liebte, wenn auch keine Bande des Blutes mich mit ihm verbanden! - Sieh, hier schläft eine Mutter; ihre Kinder leben noch, und tragen ihr Bild in dankbarer Erinnerung; da ruhet der Vater, dessen Heimgang die Familie in so tiefe Not stürzte, und wie hat der treue Gott sich der verlassenen Waisen angenommen, und durch des Vaters Segen ihnen das Haus gebaut! - Sieh, da ist eines Kindes Grab; es war das einzige Kind seiner Eltern, und wie unendlich tief war der Schmerz, als sie mit diesem einen das Glück ihres Lebens auf immer begraben wähnten; und doch hat Gott sie zu trösten gewusst, und verlassene Waisen haben diesen Eltern die Leere ihres Herzens ausfüllen müssen, und mit der Stellung ihres Bedürfnisses, Liebe zu spenden, ihnen zugleich den vollen Frieden zurückgegeben. - Und siehe, der hier an dieser Stätte schläft, war ein frommer Dulder; so lange Jahre hat er mit heißen Schmerzen zu ringen gehabt; der Gang seines Lebens war rau und dornenvoll; oft genug hat er um seine Erlösung geflehet, jetzt ist sie erschienen; nun schlafe in Frieden, du stiller Dulder; Gott hat die Dornenkrone von deinem Haupte genommen; du ruhest nun von deiner schweren Arbeit, aber deine Werke werden dir nachfolgen.

Und sieh', hier auf dieser grünen Stätte soll  d e i n  Grab gegraben werden: wie ist dir 's zumute, wenn du dir dein letztes Bett ansiehst? Zitterst du? Graut 's dich bei dem Gedanken? Dann bist du noch nicht los von der Welt; o, dann lerne noch an einem andren Grabhügel: sieh, über dieser Gruft ist ein herrliches Denkmal aufgerichtet; der Mann, dessen Gebein hier schläft, war reich, sehr reich;  er stand in der Blüte seiner Jahre; alle Welt beneidete ihn; aber der Wurm des Todes nagte an seinem Herzen, und einst, mitten in der Lust und Herrlichkeit seines Genusslebens, trat der Tod in sein glänzendes Prunkgemach, und legte den Verzweifelnden auf das Sterbebett; ach, so schwer es dem reichen Manne werden wollte, von diesem Leben zu lassen - er musste fort, und starb den Tod der Verzweiflung!

Meinst du nicht, dass das Sterben ihm leichter geworden wäre, wenn die Dinge der Welt ihn nicht gehalten und an das Leben gebunden hätten? Ach, liebes Herz, lass dir 's die stille Stätte predigen, dein Leben dem Dienst des Herrn zu weihen, damit du einst getrost könntest deine Seele in Gottes Hand zurückgeben in der freudigen Zuversicht, dass der Inhalt deines Erdenlebens unverloren sein werde für die Ewigkeit!



(J. Müllensiefen, 1865)