Montag, 16. März 2020

Der Tod hat viele Gesichter



Dasselbe Ding hat oft vielerlei Gesichter, und diese Gesichter können sehr verschieden sein. Dasselbe Ding schaut oft ganz anders aus, je nachdem die Umstände sind, und je nachdem wir selber gesinnt oder gestimmt sind. Sprich einunddasselbe Wort, tu einunddieselbe Tat: das eine Mal erntest du Dank und Lachen, das andre Mal Zorn und Tränen; Wort oder Tat waren gleich, aber ihre Gesichter waren ungleich.
So ist es auch mit dem Sterben. Sterben und Sterben ist zweierlei - nein, vielerlei, viele Gesichter hat der Tod. Er hat sanfte und wilde, gütige und grausame, gewöhnliche und erhabene Gesichter. Im Grunde genommen hat der Tod nie dasselbe Gesicht, er hat ein besonderes für jeden Menschen, denn jeder Mensch stirbt nach seiner eigenen Weise.
Wie wird der Tod uns erscheinen? Wir wissen es nicht eher, als bis er vor uns hintritt und uns in die Augen schaut. Es läßt sich nicht leugnen, daß darin etwas Beängstigendes liegt. Wüßte man vorher, wie der Tod ausschauen wird, so könnte man sich gewissermaßen darauf einrichten. In einer so ernsten Sache ist eine Überraschung nicht angenehm; aber es hilft uns nichts, er wird den Schleier vorher nicht lüften. Darum ist es gut, sich auf alles gefaßt zu halten, auch auf ein ernstes, auch auf ein schreckliches Gesicht. Übrigens kann hinter der strengsten Miene große Güte verborgen sein. 
Aber wer bestimmt denn, welches Gesicht der Tod zeigen soll? Das bestimmt an erster Stelle derjenige, der den Tod sendet, der Herr, in dessen Hand Leben und Tod ist. Darin liegt ein großer Trost. Der Herr bestimmt die Zeit, den Ort, die Weise, er fügt alle Umstände nach seinem Ermessen und wägt das Gewicht, das wir tragen sollen. Der Tod ist ein gehorsamer Diener, er schaut immer nach den Augen seines Herrn und folgt jedem Winke. Wir wissen aber, daß der Herr ein getreuer Gott ist, der uns nicht über unsere Kräfte versucht. Darum soll uns jede Miene und jede Gestalt und jede Gebärde des Todes recht sein. Es ist uns genug, zu wissen, daß wir nicht einem blinden Schicksal, einem grausamen Ungefähr preisgegeben sind, sondern in der Obhut des Vaters stehen. Von der Hand des Vaters können wir alles annehmen. Ich fürchte dein Gesicht nicht mehr, o Tod, und wenn ich auch nicht weiß, wie es sein wird, so kenne ich es doch: du kommst in der Gestalt, die der Vater dir befiehlt, und gerade so will ich dich sehen.
An zweiter Stelle bestimmen wir selber das Gesicht, das der Tod uns zeigen wird. Auf die äußern Umstände freilich haben wir keinen Einfluß; wir könnten alle möglichen Vorkehrungen treffen und wären doch nicht sicher, daß nicht alles sich anders wendete, als wir es zurechtgelegt haben. Aber es ist ja auch nicht so sehr die äußere Form, was dem Gesichte seine Bedeutung gibt, als vielmehr der Ausdruck. Und wir haben es wirklich mitzubestimmen, mit welchen Augen uns der Tod anschauen soll. Wie gelebt, so gestorben, sagt das Sprichwort. Je treuer wir unsere Pflicht erfüllen, je reiner wir unser Herz bewahren, um so milder wird uns der Tod begegnen; je schlechter das Leben war, um so strenger werden seine Züge sein. Auch in diesem Gedanken liegt ein Trost: noch leben wir ja und können unsere Sache in die Hand nehmen. Es liegt aber auch eine Sorge darin: werden wir das Ziel auch fest im Auge behalten, oder wird die Welt und unsere Schwachheit uns davon ablenken? Es steht bei uns, doch nicht bei uns allein und nicht zuerst bei uns; es kommt zumeist auf Gottes Gnade an.
Darum sollen wir eifrig beten um einen seligen Tod.


(c) Augustin Wibbelt (1862-1947)