Sonntag, 16. November 2025

Seit unser Kindlein schlafen ging ...


 


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist stiller Schmerz in unserm Haus,

der presst uns manchmal Tränen aus ---

Es ist ein Schmerz in unserm Haus,

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist uns die Erde wen'ger wert,

schal alles, was sie uns beschert ---

Die Erde ist uns wen'ger wert, 

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

ist näher uns die Ewigkeit;

willkommen uns das Flieh'n der Zeit ---

Es ist uns nah die Ewigkeit,

weil unser Kindlein schlafen ging.


Seit unser Kindlein schlafen ging,

durchzieht ein Heimweh unsre Brust,

das heilt nicht mehr, bis wir mit Lust

einst drücken dürfen an die Brust

das Kindlein, das schon schlafen ging.



(c) Karl Eisele, ca. 1900

Wegweiser


 

Was vermeid' ich denn die Wege,

wo die andern Wandrer geh'n,

suche mir versteckte Stege

durch verschneite Felsenhöh'n?


Habe ja doch nichts begangen,

dass ich Menschen sollte scheu'n -

welch ein törichtes Verlangen

treibt mich in die Wüstenei'n?


Weiser stehen auf den Straßen,

weisen auf die Städte zu,

und ich wandre sonder Maßen

ohne Ruh', und suche Ruh'.


Einen Weiser seh' ich stehen

unverrückt vor meinem Blick;

eine Straße muss ich gehen,

die noch keiner ging zurück ...



(c) Wilhem Müller (1794-1827)

Was war ich?


 


War ich ein Falter vor meiner Geburt,

ein Baum oder ein Stern?

Ich habe es vergessen.

Aber ich weiß, dass ich war

und sein werde.

Augenblicke

der Ewigkeit ...



(c) Rose Ausländer (1901-1988)

Donnerstag, 13. November 2025

Weil alles erneut sich begibt

 



Aus dem Dunkel, das lind dich umschließt,

aus dem Nass, das dich nährend umfließt,

mach dich auf, tritt hinaus aus dem Schoß.

Denn das Licht ist so süß und so groß.


Wenn die Wölbung des Schlafes zerbricht,

tritt hinaus in das östliche Licht,

in den Tau, der die Sohlen dir kühlt,

in die Luft, die so blau dich umspült.


Und du fühlst, wie der Atem beglückt.

Die Wiese ist rötlich geschmückt.

Und ein silberner Mittag beglänzt

den Hang, der mit Reife sich kränzt.


Doch bevor noch ein Strahl dich versengt,

hat kühl sich der Schatten verlängt,

und grünlich verfärbt sich der West,

da der Tag seine Gäste entlässt.


Was dich schreckte und scheuchte, vergiss.

Denn die Erde ist treu und gewiss.

Und du weißt dich vom Dunkel geliebt,

weil alles erneut sich begibt.


Und so trittst du vertrauend hinein

in die Nacht, in den Tod, in den Stein,

in den Sand, in den Schiefer, den Ton,

in den Wein, in das Öl, in den Mohn.



(c) Werner Bergengruen (1892-1964)

Dienstag, 11. November 2025

ein und derselbe


 

Darin besteht das Wesen der Tugend,

dass du in Freuden und Leiden

ein und derselbe Mensch bist.



(c) Thomas A. Kempis (1380-1471)

Montag, 10. November 2025

Das Lied des Lebens


 

Flüchtiger als Wind und Welle

flieht die Zeit, was hält sie auf?

Sie genießen auf der Stelle,

sie ergreifen schnell im Lauf:

Das, ihr Brüder, hält ihr Schweben,

hält die Flucht der Tage ein,

schneller Gang ist unser Leben,

lasst uns Rosen auf ihn streu'n!


Rosen, denn die Tage sinken

in des Winters Nebelmeer;

Rosen, denn sie blüh'n und blinken

links und rechts noch um uns her.

Rosen steh'n auf jedem Zweige

jeder schönen Jugendtat.

Wohl ihm, der bis auf die Neige

rein gelebt sein Leben hat.


Tage, werdet uns zum Kranze,

der des Greises Schlaf umzieht

und um sie in frischem Glanze

wie ein Traum der Jugend blüht.

Auch die dunkeln Blumen kühlen

uns mit Ruhe, doppelt süß;

und die lauen Lüfte spielen

freundlich uns ins Paradies.



(c) Johann Gottfried Herder (1744-1803)