Einem Sterbenden nahe sein heißt zwar auch, noch dies und jenes tun und auf eine stille Art liebevoll dasein; es heißt aber in erster Linie, mit ihm und für ihn beten.
Es wird immer der Verantwortung und dem Feingefühl des Begleitenden anheimgegeben sein, wie weit er dem Sterbenden die Wahrheit sagen will. Ich selbst würde aus Achtung vor dem Sterbenden bei Klarheit und Wahrheit zu bleiben suchen, auch wenn es den Gepflogenheiten von heute nicht mehr entspricht. Ich würde ihm die Wahrheit sagen und ihn nicht betäuben, wenn immer er ein Mensch ist, der auch in seinem Leben die Verwirrung seiner Sinne und die Betäubung seiner Gedanken nicht gewünscht hat. Denn ein Gebet mit dem Sterbenden ist ohne Wahrheit nicht denkbar. Daß wir so häufig vorziehen, ihn im unklaren zu lassen, bedeutet nicht, daß wir bessere, sondern daß wir schlechtere Helfer und Freunde sind. Daß es uns heute oft so schwer scheint, zu glauben, hängt mit der hohen Kunst der Vernebelung zusammen, die unsere Zeit erreicht hat, denn nichts schadet dem Glauben so sehr wie Betäubung oder das Dämmerlicht einer lebenslangen Unklarheit. Es hilft nichts, den Sterbenden in die Scheinwelt seiner Lebenshoffnungen zurückzuholen. Es geht aber die einzigartige Gelegenheit vorüber, in letzter Stunde zu danken, zu bekennen, zu versöhnen und zu verzeihen. Das Sterben ist ein Stück des Lebens; um dieses letzte Stück Leben soll man niemanden betrügen.
Es scheint mir auch ein Unrecht zu sein, ihn so zu trösten, daß er der alte bleiben kann mit all seinen Selbsttäuschungen und Selbstrechtfertigungen. Was Schuld ist, muß deutlich werden, aber es muß ebenso klar gesagt werden, wer für diese Schuld eintritt. Dem Sterbenden muß die Möglichkeit geboten werden, seine Schuld zu bekennen und in der Wahrheit vor Gott zu treten.
Wer die Wahrheit sagt, übernimmt aber damit die Pflicht, den Sterbenden zu begleiten, bis er die Schwelle überschritten hat, wenn es irgend möglich ist. Einfaches Dableiben ist unendlich viel, durch das einfache Dasein zeigen, daß er nicht verlassen ist, und ihm dann in aller Stille und mit dem Segen des dreieinigen Gottes helfen, still und ohne Angst hinüberzugehen.
(c) Jörg Zink, 1922-2016