Nun ist die Schrift erfüllet, nun ist die Nacht geendet, die Sonne bricht hervor und wirft ihre glühenden Abendstrahlen auf das Kreuz, und der Herr ruft das größte seiner Worte, das erhabenste Wort, das seit dem Schöpferwort des Anfangs gesprochen ward, das Wort: " Es ist vollbracht!" Es ist der Siegesruf des Helden Gottes, es ist der Jubelschrei des Löwen Gottes, der überwunden hat, es ist das große, laute Amen Jesu Christi, darauf der Himmel zu den Harfen greift, und die Hölle mit den Zähnen knirscht. Er hat sich umgesehen am Kreuz rückwärts bis auf den ersten Sünder an der Pforte des verlorenen Paradieses, vorwärts auf den letzten Sünder, der noch wird geboren werden, und siehe, das Lösegeld reicht aus für alle, es ist vollbracht, vollbracht die Sühne für die ganze Menschheit, vollendet der Rock der Gerechtigkeit und die Kleider des Heils, die unsre Blöße decken. Jesus hat ihn gewoben, hat ihn gewoben mit seinen durchgrabenen Händen, und als er das Gewand fertig hatte, rief er triumphierend: Es ist vollbracht. Unter dieses sechste Wort rufe ich euch alle, alle. Jesus hat alles vollbracht. Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Nun kann und darf und will er alle seine Gerechtigkeit auf uns werfen. Weg drum mit aller Selbstgerechtigkeit, weg mit allem Kleinglauben und Zweifel, ob denn das Lösegeld auch für dich reicht: Fürchte dich nicht, glaube nur: es ist vollbracht.
Als er das Siegerwort gerufen, fügt er frohlockend hinzu: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände." Es ist das Scheidewort des Friedefürsten. In Gethsemane war die Stunde, wo er in der Menschen Hände übergeben ward, hier übergibt er seinen Geist in des Vaters Hände: da will er ruhen, während der Leib im Grabe ruht, bis der Geist sich über ein Kleines wieder vereint mit dem verklärten Leibe. Unter dieses siebente Wort rufe ich die Sterbenden, daß sie mit dem Psalm sprechen: "In deine Hände befehle ich meinen Geist, denn du hast mich erlöset, Herr, du treuer Gott." Unter dieses siebente Wort wollen wir unser Sterbebett rücken, wenn unsre Stunde schlägt, und wollen das letzte Wort unsres sterbenden Herrn in des sterbenden Stephanus Übersetzung wandeln: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf. Denn nichts ist, das uns im Angesicht des Todes sterbensfreudig macht, als der Blick aufs Kreuz, auf den, der überwunden hat. Als ich einst am Bett eines Sterbenden stand und ihm den kalten Todesschweiß von der Stirne wischte, mich über ihn beugte und ihn fragte, wessen er sich getröste in seinem Sterben, da hauchte er mit den erbleichenden Lippen jenen schönen Vers:
Der Schweiß von deinem Angesicht
laß mich nicht kommen ins Gericht.
Dein ganzes Leiden, Kreuz und Pein,
das wolle meine Stärke sein.
Meine Lieben, wer so stirbt, der stirbt wohl.
(c) Dr. Max Frommel, 1830-1890