Ein großer Meister wollte den Hiob malen, den elenden, zerschmetterten Mann, der todeswund an Leib und Seele auf den Scherben seines Glücks sitzt. Wie er sich auch mühte, dem tiefen Jammer, dessen Bild in seiner Seele lebte, Gestalt zu geben, es wollte nicht gelingen. Da malte er ihn verhüllt. Man sah nichts als die weite gelbe Wüste, die trostlose Einöde mit dem brennenden Himmel darüber, und im Vordergrunde ein graues Etwas, die unbestimmten Umrisse eines Menschen, der in sich zusammengebrochen dalag. Vergebens suchte der Blick das Antlitz. Der Mensch begrub sein Elend, seinen Jammer und seine Hässlichkeit mit den Falten des Mantels, als schämte er sich des Tageslichtes. Wer dies verhüllte Etwas anschaute, fühlte einen Schauder durch seine Seele gehen; er ahnte das Entsetzlichste und fürchtete unwillkürlich, es möchte sich aufrichten und all das verborgene Grauen entschleiern.
Hast du nicht vielleicht eine ähnliche Erfahrung gemacht? Du trittst in die stille Sterbekammer, wo der Verblichene ruht, eine regungslose Gestalt. Es drängt dich, die geliebten Züge noch einmal zu schauen, und du streckst die Hand aus, um das weiße Laken zu lüften. Da fasst dich ein geheimes Grauen: was wird sich zeigen, wird es das bekannte Antlitz sein, oder ist es fremd geworden? Vielleicht trägt es den Ausdruck friedensvoller Ruhe, vielleicht aber auch ---- der Tod kann furchtbar umgestalten, und deine Seele erzittert vor dem, was das weiße Laken birgt.
Es ist eine Gnade für uns, dass der Tod uns verhüllt entgegentritt; aber es lässt sich nicht leugnen, dass darin zugleich ein Schrecken des Todes liegt. Dass der Augenblick und die näheren Umstände des Sterbens uns verborgen bleiben, bis wir mitten darin stehen, solange wir noch atmen, ist gewiss eine Gnade, für die wir dem Schöpfer danken wollen. Aber was uns das Sterben furchtbar erscheinen lässt, ist das Fremde, das gänzlich Unbekannte. Wie wird uns sein, wenn der Tod uns fasst? Was werden wir fühlen, was werden wir empfinden? Wie schmeckt der Tod? Alle Erfahrungen, die wir in einem langen Leben gemacht haben mögen, lassen uns im Stiche; sie können uns nichts sagen auf unsere bange Frage.
Vergebens bemühen wir uns, die Sterbenden zu belauschen. So lange sie uns Auskunft geben könnten, ist auch ihnen der Tod noch das Verhüllte, das Unbekannte, vor dem die Seele unwillkürlich erschauert. Je näher sie ihm kommen, um so ferner werden sie uns; ihre Stimme würde uns nicht mehr erreichen, wollten sie im letzten Augenblick sich rückwärts wendend uns Bericht geben. Sie werden auch wohl so erfüllt sein von dem großen Ernste dieses Augenblickes, dass sie unsere Frage gar nicht hören, dass sie das Leben und seine Wünsche gar nicht mehr verstehen, nicht mehr sehen. Mitunter wird beobachtet, dass beim Sterben plötzlich eine Veränderung über die erstarrenden Züge geht, als ob sich etwas Ungeahntes entfalte vor der scheidenden Seele. Was ist es? Ein Staunen ---- ein Erschrecken ---- ein freudiges Aufleuchten? Hat der Sterbende etwas geschaut --- etwas gehört --- etwas empfunden --- eine erste Erfahrung gemacht, die schon von jenseits kommt? Wer will es deuten!
Nun liegt er da und hat die Lippen für immer geschlossen. Jetzt weiß er das große Rätsel und könnte Auskunft geben, aber er schweigt. Vergebens suchst du eine Antwort zu lesen in seinen starren Zügen, sie bleiben unbeweglich. Mag der Verstorbene dir ein treuer Freund gewesen sein, der kein Geheimnis vor dir hatte: das große Geheimnis des Sterbens verrät er dir nicht. Mag er dir ein Führer und Berater gewesen sein, der immer bereit war, dir die Wege zu weisen: über den dunkeln Weg, den er soeben gegangen ist, den auch du gehen musst, über den du so gern etwas wissen möchtest, über diesen Weg sagt er dir kein Wort.
Nun setze dich hin und grüble nach, spanne alle deine Geisteskräfte an, um das Rätsel zu lösen; frage die tiefsten Ahnungen deiner Seele: wie wird mir sein im Sterben? ----- Die Antwort bleibt aus. Der Verhüllte lüftet die finstern Falten nicht. Du musst den Tod so nehmen, wie er für das Leben ist, ---- als das Fremde, das nie Erfahrene und nie Empfundene, als das große Unbekannte.
(c) Augustin Wibbelt, 1862-1947