Mittwoch, 10. August 2016

Mitten im Leben


"Die Wendung 'mitten im Leben' deutet nicht auf Sommerfreuden, sondern auf plötzlichen Tod, auf Trauer und Leid. "Mitten im Leben", so fängt aber auch ein kleines Gedicht von Günter Grass an, in dem anklingt, wie Tod und Leben miteinander verquickt sind.

Mitten im Leben denke ich an die Toten,
die ungezählten und die mit Namen.
Dann klopft der Alltag an, und übern Zaun
ruft der Garten. Die Kirschen sind reif!*

Auch in der hellsten Zeit des Jahres bleiben schlechte Nachrichten nicht aus. Ja, manchmal kann es einem so vorkommen, als würden sie sich gerade jetzt häufen. Nicht zu fassen ist die Menge der "ungezählten" Toten. Die anderen, die für uns Namen und Gesicht haben, widersetzen sich dem Begreifen auf ihre Weise: Es ist nicht zu fassen, wie viele von den Nahen und Nächsten vom Tod bedroht oder auf einmal nicht mehr am Leben sind. Der Tod mitten im Leben erzwingt unsere Aufmerksamkeit und macht uns sprachlos. Er schnürt einem die Kehle zu und lähmt die Lebensgeister. Und dann? Dann klopft der Alltag an. Der Alltag, der das Leben vorantreibt, obwohl es gerade stillzustehen scheint. Der sich nicht darum kümmert, ob man noch Kräfte übrig hat für ihn. Der darauf drängt, dass etwas getan werden muss, jetzt gleich. Der auftischt, was überhaupt nicht in dunkle Tage passt. Übern Zaun ruft der Garten: Die Kirschen sind reif. Also müssen sie geerntet werden. Auch das noch, zu allem. Aber dann zeigt sich, dass die unabweisbare Arbeit ihr Gutes hat. Sie bringt Ordnung in chaotische Tage. Sie erzwingt, dass man sich bewegt, während gerade alles wie erstarrt ist. Die reifen Kirschen aber sagen wortlos, dass es auch jetzt etwas gibt, was Lust auslöst und Genuss verspricht. Mitten im Leben ist beides: Ende und Anfang, Abbruch und Reife, das Bittere und das Süße. Eins kann nicht gegen das andere aufgerechnet werden. Die Bilanz bleibt offen. Wäre es aufrichtiger, angesichts der ungezählten Toten die Lebensfreude zu ersticken? Nein. Wesen, die endlich sind und es wissen, haben doch die wunderbare Gabe, sich zu freuen und in Begeisterung zu geraten, obwohl sie nicht wissen, was morgen sein wird. "Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben." Das sagt der Prediger Salomo. ** Und setzt, wie der Dichter Grass, die Sommerfreuden ins Recht."

* Günter Grass (in: Fundsachen für Nichtleser, Göttingen 1997, 44)
** 3, 12

(Pastor Kaus Eulenberger) 
Ich danke dem NDR (Morgenandacht Kultur/Info, Redaktion Kiel, Frau Pastorin Claudia Aue) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des obigen Textes. Sämtliche Autorenrechte liegen bei: