Samstag, 6. August 2016

Man weint doch ganz andere Tränen


An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden. - Wie sollten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande? (Psalm 137, 1+4). Weine nicht. - Weinet nicht, sie ist nicht gestorben, sie schläft nur (Lukas 7, 13 und 8, 52). Ihr werdet weinen und heulen, und die Welt wird sich freuen. (Johannes 16, 20). Weine nicht; sieh', es hat überwunden der Löwe (Offenbarung 5, 5)


Sollen die Kinder Israel nicht weinen, wenn sie, von ihrem Zion losgerissen, an den Wassern Babels sitzen müssen, im fremden Lande? Sollen sie nicht weinen, wenn ihnen ihr Liebstes genommen ist und sie unter Babel hingeworfen sind? Sie mögen es tun, weil sie doch nicht anders können und der Herr es selbst voraussagt: Ihr werdet weinen. - Jedoch Babel hätte mehr Ursache zu weinen, welches sich doch freut und lacht über die Zucht der Kinder Gottes. Sie mögen weinen, die Kinder Gottes, wenn sie gedrückt und gedrängt werden von Babel; aber dabei nicht trostlos, nicht verzagt sein, ihre Hoffnung nicht aufgeben; sie mögen weinen über die Gegenwart, aber zugleich sich der Zukunft und ihrer Verheißung freuen. Denn die Erlösten des Herrn werden wiederkehren und gen Zion kommen mit Ruhm, und ewige Freude wird über ihrem Haupte sein. Wonne und Freude wird sie ergreifen. Siehe Jesaja 51, 11 + 12. Soll eine Witwe nicht weinen, wenn sie ihres einzigen Kindes, ein Lehrer, wenn er seiner Schüler, eine Gemeinde, wenn sie ihres Lehrers beraubt, Witwe, Waise geworden ist? - Nein, weine nicht!, sagt der Herr, der da hilft und vom Tode errettet. Soll man nicht weinen, wenn man in die dunkle Zukunft schaut, und nichts sieht, wenn niemand das Buch der verborgenen Ratschlüsse Gottes öffnen und darin lesen kann? Wenn von allen Seiten schwarze Nächte, schwere Leiden drohen, und nirgend ein Strahl der Hilfe, des Trostes zu erblicken ist? Soll man nicht weinen? Nein, weine nicht!, sagt die Stimme; es hat überwunden der Löwe aus Juda's Stamm. In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, denn ich habe die Welt überwunden (Johannes 16, 33). Man kann sich wohl des Weinens nicht erwehren, aber man weint doch ganz andere Tränen, als die Welt in ihrer Traurigkeit; sie sind mit Trost und Hoffnung vermischt, wodurch sie schnell und leicht getrocknet werden.

(Johannes Goßner, 1773-1858)