Freitag, 6. November 2015

Zugvögel



"Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." (Hebräer 13, 14)


Es sind zwei Wahrheiten, die uns dies Wort ausspricht; sie hängen innig zusammen, wie Ursache und Wirkung: weil wir hier keine bleibende Stadt haben, so suchen wir die zukünftige. Wenn wir hätten, was wir bedürfen, wir brauchten es nicht zu suchen; wenn Gott uns hier unten die Heimat gegeben hätte, da unsres ewigen Bleibens wäre, wir brauchten nach der zukünftigen nicht auszuschauen. Nun aber wird das Herz, das hier unten sich fremd fühlt, nach oben hingewiesen. Viele Menschen nehmen einen Anstoß daran, dass das Wort Gottes immer den Finger nach einer jenseitigen Welt ausstreckt; sie fühlen sich dadurch aus ihrer trägen Ruhe und Sicherheit aufgeschreckt, denn sie bemühen sich, hier unten Hütten zu bauen, und mit Sinnenlust und irdischen Gütern den unter ihren Füßen sich weitenden Abgrund zuzudecken. Aber die Wirklichkeit wird nicht aufgehoben, wenn man das Auge vor ihr verschließt, und früh genug müssen es die Getäuschten inne werden, dass alles Gut und alle Herrlichkeit, an die sie sich so krampfhaft anklammerten, unter ihren Händen zerrinnt, und dass auch des längsten Tages Sonne einmal zur Neige geht. Der Tod, der furchtbare Würger, der die Menschen wie eine Schlachtherde vor sich hertreibt, und aus Hütten wie aus Palästen unerbittlich seine Opfer fordert, er wird früher oder später auch ihnen seine Vorboten senden, die Krankheit oder das Alter, oder er wird umangesagt mitten in die Blüte, mitten in die Lust ihres Lebens eintreten, und der kurzen Täuschung ein furchtbares Ende machen. O, wer könnte doch wohl zu denen gehören wollen, deren ganze Lebenskunst darin besteht, sich das Sterben auszureden, und einer Welt fremd zu bleiben, die doch bestimmt ist, unsere ewige Heimat zu werden? Die menschliche Klugheit lehrt ja selbst die Kinder dieser Welt, in den Jahren der frischen Kraft sich etwas zu erarbeiten, damit sie im Alter, wenn die Gebrechlichkeit des Leibes die Quellen des Erwerbes versiegen macht, nicht darben dürfen: sollten wir nicht dieselbe Klugheit an den Tag leben, und in der Arbeitszeit dieses kurzen Erdenlebens uns Schätze erwerben, die ausreichen, um uns in der jenseitigen Welt vor ewigem Darben zu schützen?

Und sollte es bloß die Not sein, die uns treibt, für eine himmlische Welt uns zuzubereiten; sollten nicht Liebe und Sehnsucht uns dringen, mit geschärften Sinnen des Geistes nach ihr auszuschauen? Liegt nicht in unser aller Seele ein unaussprechlich tiefes Sehnen nach Licht und Freiheit, nach gelösten Schwingen des Geistes, nach vollkommener Seligkeit? Wenn im Spätsommer die ersten kühlen Winde über die Stoppelfelder hinstreifen, und den nahenden Herbst und Winter ankündigen, dann ziehen die Zugvögel nach dem warmen Süden, und entfliehen so den Winterstürmen, denen sie würden erliegen müssen; aber ob schon endlose Räume sie von der neuen, schönen Heimat trennen, sie erliegen doch nicht den Mühen der langen Reise, noch irren sie auf der ungebahnten Straße, denn Gott hat ihre Schwingen stark gemacht, die sie über die Länder dahintragen, und hat ihr Auge geschärft, dass es durch die Lüfte und über die Meere und Wüsten hinweg sie sicher weise zum erstrebten Ziele: sollten wir nicht von ihnen lernen können, und an ihnen Mut fassen, die Schwingen des Geistes auszuspannen, und die Heimat zu suchen, die jenseits der Gräber liegt? Ist es doch der Geist Gottes, der im Herzen die Sehnsucht erweckte nach der himmlischen Gottes-Stadt, und Er sollte ein Bedürfnis nicht zu stillen wissen, das Er der Menschenseele anerschuf?

Darum sollten wir getrost sein, wenn es uns in dieser Erdenwüste bange werden will, wenn Kummer und Sorgen unser Lager umstehen, wenn Tränen und Schmerzen den Blick umdunkeln; das Herz sei empor, das Auge sei himmelwärts gerichtet; wir haben hier keine bleibende Stadt, aber wir eilen der zukünftigen himmlischen entgegen, und Er, der Seinem Volke in der Wüste die Wege bahnte, Er wird auch uns sicher leiten, und Wege finden, da unser Fuß gehen kann.


(Prediger Müllensiefen, 1865)