Freitag, 20. November 2015

Die Nichtigkeit des Äußeren



"Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, dass ich hingehe." (Joh. 16, 7)


So sprach Jesus zu Seinen Jüngern, obwohl Er wusste, was für heiße Schmerzen Sein Scheiden bei ihnen erwecken würde. Sie konnten aber dieser Schmerzen nicht entbehren; sie bedurften ihrer für ihren inwendigen Menschen.

Wenn Gott ein teures, geliebtes Leben von unsrem Herzen losreißt, so kann es, so darf es kaum bei uns Zurückbleibenden ohne Schmerzen abgehen. Diese Schmerzen haben eine Mission von oben auszurichten; Gott bedient sich ihrer zu Seinem Werke an unsrer Seele.
Und es ist in der Tat ein ganz eigentümlicher Schmerz, den wir bei solchem Scheiden empfinden, der ein Weh mit sich führt, wie es keinem andren Schmerz eigen ist. Schon die Weise, in der dies Leid zu uns einkehrt, ist eine ganz besondere, in ihrer Art einzige. Dem Tod ging die tödliche Krankheit voran. Wir erkannten sie nicht gleich in ihrer ganzen Bedeutung; wir hofften, ihre Macht durch die größere Macht unsrer pflegenden Liebe brechen zu können. Aber als sie nun immer unzweideutiger auftrat, als wir dem ersten Gedanken in unsrem Inneren begegneten: "Wie, wenn er stürbe?" und wir es noch nicht wagten, diesen Gedanken auszudenken; als dann die sicheren Vorboten des Todes kamen, und wir anfingen, mit Gott um ein geliebtes Leben zu ringen: o wie bange, wie schmerzvoll war in jenen Stunden des Hoffens und Zitterns unsre Seele bewegt und in ihren tiefsten Tiefen aufgewühlt; und als nun der Tod seine kalte Hand auf das liebliche Angesicht gelegt, diese Augen geschlossen, diesen Mund hatte verstummen lassen; als man dann der bleichen Hülle das weiße Totenkleid anzog und sie in den engen Sarg legte; als wir dann das letzte Ruhelager mit Blumen schmückten, und endlich die teure Hülle in die dunkle Gruft hinabsenkten, immer ward der Schmerz in neue Weisen gewandelt; und als wir dann heimkehrten in das öde und verlassene Haus, und den lieben Toten an allen Stätten, wo er zu weilen und zu walten pflegte, vergeblich aufsuchten, da kam uns das ganz eigentümliche Weh dieses Schmerzes erst zum vollen Bewusstsein: es war das Gefühl einer unaussprechlichen Verlassenheit, die uns überkam; es war ein Durchschauen in die Armut und Nichtigkeit dieser Welt, als wäre eine Decke von ihr abgezogen worden, die uns bisher ihr eigentliches Wesen verhüllt hatte. Jetzt war der Zauber zerstört, in welchem sie oft vor uns geleuchtet hatte; es standen die Dinge in ihrer nackten, furchtbaren Blöße vor uns. Was war es um alle diese gerühmten Freuden und Zerstreuungen, nach denen wir uns so oft gesehnt hatten; um den Glanz der Gesellschaften, um das Glück der Bewunderung, die ein schönes Kleid erweckt; was war 's um menschliche Ehre, um den Besitz eines Vermögens, um einen Titel oder um einen Orden?

O, wie schämten wir uns bei dem Gedanken, dass diese Dinge uns jemals hatten reizen und locken können! Und während wir bei jedem sonstigen Verlust nur den Wert des einen verlorenen Gegenstandes in Anschlag zu bringen pflegen, so hatte der Tod, der uns das teuerste Leben vom Herzen gerissen, für uns zugleich die Lust und Herrlichkeit der ganzen Welt mit zertrümmert, so dass wir uns in EINEM Augenblick aller Güter zugleich beraubt dünkten, wie Adam, dem die Eine Sünde das Paradies seines ganzen Lebens gegen die Wüste des fluchbeladenen Ackers umtauschte!

Adam hatte es  v e r d i e n t, dass Gott ihm sein Paradies zerschlug, und ihn in eine Welt hinausstieß, wo die Dornen und Disteln ihm zuwuchsen, wo Not und Mühsal aller Art sein Erbteil wurden: hatten wir es minder verdient, wenn an dem Sterbebett eines geliebten Menschen ein ähnliches Gericht Gottes über uns kam, das uns die Blöße unsres Herzens, das Elend unsrer Sünde zeigen wollte?

O, die meisten Menschen, wenn sie sich in solcher Lage befinden, wagen es gar nicht,  diesem Gedanken, wenn er an sie herantritt, ins Auge zu sehen; sie weichen ihm aus; sie wollen das überwältigende Gefühl der Armut und Nichtigkeit der Welt nicht Raum gewinnen lassen in ihrem Innern; sie versuchen es auf alle Weise, die vor ihrem Geistesblicke enthüllte Welt wieder mit ihrem früheren Zauber zu umkleiden, an ihrer Lust, an ihrem eitlen Wesen wieder Gefallen zu finden, und darum kommen sie nie zum wahren Frieden, weil sie nicht den Mut haben, den ihnen beschiedenen Kelch der Schmerzen bis auf seine Hefen auszuleeren, und den bitteren Trank das Werk ihrer völligen Genesung vollbringen zu lassen.

Erst unter dem Kreuz Christi haben die Jünger die ganze Tiefe ihrer Sünde erfahren und mit dem Meister sterben gelernt; und wenn bei uns der heiße Schmerz einer Trennungsstunde je geheiligt und verklärt, wenn das heimliche Zittern und Bangen, das die Seele an einem Sterbebett überfällt, jemals gründlich überwunden werden soll; wenn die bängsten Stunden im Leben im Stande sein sollen, ein neues, geheiligtes Freudenleben in uns zu zeugen, dann müssen sie in dem Menschen diesen Entschluss zur Reife, zur völligsten Entscheidung bringen, von jetzt an mit der eitlen Lust der Welt, mit der Sünde des Herzens auf immer zu brechen; von nun an mit ganzem, ungeteilten Gemüt in den Dienst Gottes einzutreten, damit der Geist Gottes Raum gewinne, ein Neues zu schaffen, und über alles Bitten und Verstehen hinaus das Wort Seiner Verheißung erfüllt sehen zu lassen:

"Den Abend lang währet das Weinen, und des Morgens die Freude." (Psalm 30, 6)



(Prediger J. Müllensiefen, 1865)