Man hat das deutsche Mittelalter auf der einen Seite gelästert und verleumdet als die finstere Zeit, man hat es auf der anderen Seite gepriesen und gefeiert als die goldene Zeit. Es war in Wahrheit weder das eine noch das andere. Aber es war groß. Und wenn es groß war im Irren und Fehlen, so auch und wohl noch mehr im Glauben und Lieben, im Dulden und Schaffen.
Das Mittelalter war ehrlich.
Darum nannte es die Dinge beim rechten Namen, mochte es auch derb klingen. So nannten auch die Künstler den Tod beim rechten Namen. Er war ihnen nicht ein trauernder Genius, ein Bruder des Schlafes, sondern der Sensenmann, das dürre Gerippe mit dem grinsenden Schädel, der Grausame und Boshafte, der kein Erbarmen kennt, der den angstvollen Menschen höhnend zum Tanz auffordert. So sahen sie ihn, und so stellten sie ihn dar in drastischer, unerbittlicher Ehrlichkeit. Sie verhüllten ihn nicht mit Blumen, sie zogen den letzten Schleier von einer Hässlichkeit.
Das Mittelalter war stark.
Noch strotzte das Volk in ungebrochener Kraft, und die Nerven waren wie Stahl; auch die Seelen waren stark in kindlichem Glauben, den noch kein Zweifel angekränkelt hatte. Darum konnten sie den Anblick des unverhüllten, unverschönten Todes ertragen. Mit festen Augen schauten sie in Grab und Moder hinab, denn darüber schwebte ihnen das strahlende Kreuz in Siegesglorie. Eine ernste Bußpredigt war ihnen der Tod und eine tröstliche Verheißung. Sie konnten den Sensenmann nicht missen in ihrem Leben.
Das Mittelalter war ernst.
Es tändelte nicht mit der Zeit und vergaß nicht der Ewigkeit. Manches nahm es leicht, wie Kinder tun, woran wir schwer zu tragen haben, aber vieles nahm es bitter schwer und ernst, was unsere Zeit mit einem Scherz abtun möchte. Das Mittelalter nahm das Leben ernst und auch das Sterben. Es dachte oft an den Tod, darum wollte es den Sensenmann viel vor Augen haben. Die Leute standen mit dem Tod auf Du und nannten ihn Gevatter.
Das Mittelalter war lebensfroh.
Bei alledem -- und warum auch nicht? Die Leute dachten viel an den Tod und bauten, als wenn es für die Ewigkeit sein sollte. Werke unternahmen sie, die das Vermögen einer Generation weit überstiegen. Sie trugen die Kunst in das schlichte Bürgerhaus, schmückten das kleinste Gerät mit Schönheit und machten ihr Leben bunt, dass es glänzte und leuchtete wie die Frühlingsflur. Wie prangten sie einher in schmucken Gewändern und köstlichem Geschmeide, wie wussten sie herzhaft zu schmausen und fröhliche Kurzweil zu treiben! Und wenn die Fidel unter der Dorflinde erklang, dann ließ man den Pflug im Felde und den Krug am Brunnen und schwang sich lustig im Ridewanz und Hoppelden. Das Leben war reich an Farbe und voll in der Form, man hatte Lust am Leben und nahm sich die Zeit dazu.
Und hinter allem stand der Knochenmann und hob seine Sense. So kann man an den Tod denken und doch im Leben schaffen und sich des Lebens freuen.
© August Wibbelt (1862-1947)