Freitag, 11. November 2022

Wo steht dein Kreuzlein?


Wenn irgendwo ein Mensch plötzlich zu Tode gekommen ist, so richtet man an der Stelle ein Kreuz auf. In vielen Gegenden ist es so der Brauch. So findet man ein solches Gedenkkreuz am Abhang steiler Berge, wo einer elendig abgestürzt und mit zerschmetterten Gliedern gestorben ist, oder am Wege, wo einem Bauersmann das Pferd gescheut hat, so daß es ihn grausam zu Tode schleifte, oder im grünen Walde, wo ein Förster von Wilderern meuchlings niedergeschossen worden ist. So ein Kreuz ist ein ernstes Mahnzeichen für jeden, der gesund seines Wegen vorbeigeht.

Man könnte ein Kreuz aufstellen an jedem Orte, wo ein Mensch gestorben ist, wenn ihn auch kein plötzliches Unglück niedergeschlagen hat. Das Sterben ist so ernst und wichtig, daß jede Stelle, wo ein Mensch seine Seele ausgehaucht hat, ihren profanen Charakter verliert und eine Art Weihe bekommt. Nur würden der Kreuze gar zu viele stehen müssen, und in alten Häusern würde kein Platz mehr bleiben.

Es gibt ein Plätzchen auf der Welt, das dir zum Sterben bestimmt ist, und dort wirst du einst sicher sterben. Gottes Auge ruht schon auf diesem Plätzchen, er könnte schon jetzt ein Kreuzlein aufrichten für dich. Wenn er es getan hätte, wenn dein Kreuzlein schon stände, wo würde es wohl sein? Komm, laß uns miteinander suchen gehen, denn wenn wir es auch nicht finden, so hat doch das Suchen seinen Sinn und seinen Nutzen.

Wer denkt nicht zunächst an sein Haus, an die Schlafkammer und sein Bett; sterben doch die meisten Menschen daheim nach einer längeren oder kürzeren Krankheit, die sie ans Bett gefesselt hat. Um so näher liegt dieser Gedanke, wenn einer einen festen Wohnsitz hat, den er nicht zu wechseln gedenkt. Dann spricht hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß er dereinst, wenn die Stunde gekommen ist, in diesem Raume und auf diesem Lager den letzten Augenblick erwarten soll. Nehmen wir an, daß es so kommen werde, wie würden dann die Umstände sein? Wirst du alleine liegen, oder werden die Deinen dich umgeben? Wird die Sonne durchs Fenster scheinen, oder wird finstere Nacht dich einhüllen? Wirst du alles bereitet haben für deinen Heimgang, oder wird der Tod dich unverhofft antreten? Doch lassen wir diese Fragen ruhen, wir wollen nur den Platz anschauen. Hier also, zu Häupten deines Bettes an die Wand gelehnt, müßte dein Kreuzlein stehen. Wenn es wirklich dastände, ein schlichtes weißes Kreuz mit deinem Namen darauf und mit Jahr und Tag darunter, würdest du noch ruhig schlafen gehen können? Es wäre wohl gut, wenn du es könntest, aber es wäre doch viel verlangt. -----

Vielleicht aber muß diese Stelle leer bleiben; dein Kreuz steht anderswo. In deinem Garten ist eine stille Laube, da sitzest du gern und ruhest aus, und dein Herz erfreut sich am Spiele des Lebens, das um dich sein Wesen treibt. Wie würdest du erschrecken, wenn dir plötzlich aus dem gründämmernden Dunkel deiner geliebten Laube das weiße Kreuz entgegenschimmerte! Hier also, wo du so oft geruht hast, sollst du einst die ewige Ruhe finden, vielleicht in der stillen Stunde, wenn die Sonne hinter den Wald gleitet, und die Feierglocke vom Dorfe herübertönt. -----

Ein wenig müde, aber gehoben durch das Bewußtsein erfüllter Pflicht, schreitest du zum Abendtrunk am Stammtisch. Da findest du die wackern Nachbarn, und auch der Herr Bürgermeister ist da, mit dem du noch ein Wörtlein zu sprechen hast; ein ehrsamer Bürger darf sich schon erlauben, einmal anderer Meinung zu sein, als die Weisheit Seiner Gestrengen, des löblichen Stadtoberhauptes. Auch der Trunk wird dir gut munden, und dein Stuhl ist frei; niemand setzt sich auf deinen festen Sitz, wenn du ihn auch nicht gerade gepachtet hast. Weh --- da steht das Kreuzlein hinter dem Stuhle! Wann wirst du das Glas trinken, das der Tod selber dir kredenzt? -----

Wie wogt das Leben in den Straßen der Stadt! Du hast Mühe, dich durchzufinden. Das ist ein Rennen und Hasten, ein Wagenrollen und Pferdestampfen, die Straßenbahn läutet schrill, ein Auto schmiegt sich durch das Getriebe ---- man muß staunen, daß die Knäuel sich immer wieder entwirren. Und dort, mitten in der Brandung des Lebens, ragt dein Kreuz auf --- dort wird einmal ein Rad des wilden Getriebes dich fassen und zermalmen. -----

Wo ist ein Platz, da dein Kreuzlein nicht stehen könnte? Vielleicht steht es unsichtbar irgendwo an den glitzernden Schienen, die sich dehnen wie gleißende Schlangen im Sonnenscheine ---- vielleicht am stillen Ufer eines Wasser ---- vielleicht auf luftiger Höhe, von wo es weit herniedergrüßen kann --- vielleicht in einem engen dunklen Winkel ---- vielleicht nahe vor deiner Türe, vielleicht weit in der Ferne. Es ist möglich, daß dein Kreuz auf einer öden Heide steht, die dein Fuß bisher noch nie betreten hat.

Doch wo es auch sei, mach' dir keine Sorge um den Ort, denn die ganze Welt ist Gottes. Aber geh auch nicht immer so gedankenlos daher! Vor allem aber verletze und verunehre keinen Platz auf Gottes Erde, damit nicht etwa dein Kreuz dereinst in Schmutz und Dunkel stehe.



© Augustin Wibbelt (1862-1947)