Freitag, 19. März 2021

Des Todes Stachel

 


Der Tod ist der Sohn der Sünde. Durch die Sünde ist er in die Welt gekommen, und von der Sünde nimmt er seine furchtbarsten Schrecken.

"Des Todes Stachel ist die Sünde." (1. Kor. 15, 56)

Sollte man es glauben, daß die Sünde, die sich so schön zu schmücken, die so verführerische Reize zu entfalten weiß, einen so hässlichen Sohn hat? Sie schämt sich seiner und möchte ihn verleugnen; sie prahlt, daß sie die Fülle des Lebens zu verschenken habe. Aber die Sünde hat noch nie die Wahrheit gesprochen, ihre ganze Schönheit ist Lüge, und wenn der falsche Schein, die Schminke auf ihren Wangen zerfließt, dann zeigt sich die Hässlichkeit, die ihr Sohn, der ehrliche Tod, offen zur Schau trägt. Im geheimsten ist sie verbündet mit ihrem Sohne, den sie vor der Welt nicht kennen will; sie führt ihm die Opfer zu und hat ihn ausgerüstet mit dem giftigen Stachel. Sie verbirgt ihre Grausamkeit, wie sie ihre Hässlichkeit verbirgt, die falsche, glatte Sünde, aber ihren Sohn, den Tod, hat sie genährt mit Haß und Feindseligkeit gegen alles Leben, und mit ihrem eigenen Geifer vergiftet sie seine Waffe. Wo die Sünde nicht hinkommen kann, da hat der Tod seine schlimmsten Schrecken verloren, aber wo sie Gewalt hat, da ist der Tod furchtbar. "Des Todes Stachel ist die Sünde."

Was ist denn das Sterben eines reinen Kindes, das die Sünde nicht kennt? Oder einer treuen Seele, die auf geraden Wegen durchs Leben gewandelt ist? Was will der Tod, wenn er das gute Gewissen als Wächter am Sterbebette sitzen findet? Da fällt ihm der Stachel aus der Hand. "Sehr schlimm ist der Tod der Sünder", sagt die Heilige Schrift.

Das Leben war wie ein Rausch, wie ein bunter Traum, der immer neuen Wechsel brachte und keine klare Besinnung aufkommen ließ. Mitunter pochte Gottes Wort an das Herz, die Gnade warf ihr Licht in das wüste Dunkel, und dann hat der Mensch halt gemacht und zurückgeschaut auf seinen Weg. Vielleicht hat er auch versucht, Ordnung zu bringen in die Angelegenheiten seiner Seele, aber das Leben zog ihn wieder in seine Kreise, ehe er völlig Ernst gemacht hatte. Es war ja noch weit bis zum Ende, es war immer noch Zeit für den Abschluss, man brauchte sich keine schweren Gedanken zu machen. Nun ist das Ende plötzlich nahe, und die schweren Gedanken kommen von selbst.

Wie wunderlich sieht das Leben aus, wenn man es rückwärts betrachtet, vom Sterbebette aus! So manches, was groß schien, ist klein geworden, so manches Unbeachtete drängt sich vor, und Niegesehenes tritt ins Licht. Wo sind die Freuden des verflossenen Lebens? Wie welke Blumen liegen sie farblos am Weg. Und die Leiden? Sie flattern fern wie dünner Nebelrauch. Wo stehen die Werke, die ich gewirkt habe, die Verdienste, die ich mir erworben habe? Es sind nur kümmerliche Trümmer, ein elendes Stückwerk, zum Teil wertlose Spreu, die der Wind schon verweht. Aber was drängt sich auf der durchmessenen Bahn, was kommt von allen Seiten herbei, was kriecht aus allen Winkeln hervor, ein freches, häßliches Gezücht, das so feindselig sich aufreckt und mit boshaften Blicken auf die zitternde Seele zielt? ----- Hilf Gott, es sind die Sünden! 

Da sind solche, die schon immer in der Erinnerung lauerten, stets bereit, ihr Haupt zu erheben mit lauter Anklage, die aber immer wieder mit Gewalt zurückgedrängt wurden; jetzt werfen sie alle Scheu beiseite und stürmen heran wie halbgezähmte Bestien, die in ihre alte Wildheit zurückfallen. Da sind andere, die halbvergessen schlummerten; jetzt sind sie erwacht und haben ihre schwarzen Augen weit geöffnet. Und andere kommen, die bisher harmlos ausschauten und nun auf einmal boshafte Züge zeigen; sie haben ihr ganzes Gesicht verändert. Und wieder andere, die sich verborgen hielten, kommen wie Kröten aus dem Dunkel. Es sind mehr, als der arme Mensch glaubte; seine flüchtige Rechnung, bei der er sich stets beruhigt hat, stimmt nicht; es sind viel mehr - es sind schrecklich viele - es sind zu viele!

Nun erheben sich allerlei Bedenken und Zweifel. Ist alles das recht begrüßt und gesühnt? Ist nicht manches zu leicht genommen oder in sträflichem Leichtsinne ganz übersehen worden? Es will der bangen Seele scheinen, daß sie das wichtigste Geschäft ihres Lebens vernachlässigt habe, und sie möchte zweifeln, ob das Versäumte jetzt noch gutzumachen sei,. Sie ist nun entsetzlich hellsehend geworden, jetzt, wo schon ein erster scharfer Lichtstrahl aus der nahenden Ewigkeit herüberdringt, und zugleich ist die arme Seele mit den schwindenden Körperkräften matt und mutlos geworden. Sie fühlt, wie die Herrschaft über sich selbst ihr entschwindet, wie die Klarheit des Bewusstseins, die das verflossene Leben so hell beleuchtete, sich mählich trübt, und wie die Phantasie beginnt, ihr wildes Wesen zu treiben. An die unerbittlichen Erinnerungen und die strengen Urteile des Gewissens reihen sich jetzt quälende Vorstellungen und entsetzliche Bilder, und die arme Seele wird im Fiebertraume umhergewirbelt wie ein welkes Blatt im Sturme. Geht es nicht schon abwärts - abwärts auf steiler Bahn mit rollenden Rädern in rasender Eile - schlägt nicht die rote Lohe schon empor drunten aus der dicken, qualmenden Finsternis - immer weiter - immer tiefer hinunter, hinein - wohin?

"Des Todes Stachel ist die Sünde?"

Wäre die Sünde nicht, so wäre das Sterben nichts. Wer wird unsere Seele halten, wenn diese Schrecken gegen sie anstürmen? Einer kann es und wird es tun.

"Dank sei Gott, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum." (1. Kor. 15, 57)

Wir fassen die Hand des Herrn, die immer ausgestreckt ist, uns zu halten und uns zu helfen. Mag dann der Schrecken des Todes läuternd über unsere Seele dahingehen, so ist es die letzte Buße, die wir leisten sollen. "Tod, wo ist dein Stachel?"

Sein Gift hat sich gewandelt in ein Heilmittel.


(c) Augustin Wibbelt (1862-1947)