Dienstag, 2. April 2019

Ich nehme Abschied ...



Seit einiger Zeit habe ich ein Gefühl wie eine Vorahnung, dass der Herr mich bald von dieser Welt abberufen wird. Darum habe ich mich entschlossen, hier meine letzten Wünsche aufzuzeichnen. Seit einigen Jahren habe ich schon als Leichentext die Worte unseres Erlösers gewählt: "Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wird, so sprecht: wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren." (Lukas 17, 10)

Ich bitte unseren lieben Seelsorger, sich daran zu halten und kein Wort der Lobeserhebung über meinen Lebenslauf zu sagen, denn Paulus sagt in 1. Korinther 4, 7: "Was hast du aber, was du nicht empfangen hast? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest?"
Es ist also Gott in seinem Ruhm, dem alles zugeschrieben werden muss, was wir empfangen haben aus Gnade, ja aus Gnade, denn was sind wir und was können wir ohne die Hilfe seines Geistes oder was können wir als Ursachen des Lobes für uns beanspruchen, während unsere ganze Fähigkeit, alles, was wir besitzen, unser ganzes Dasein eine Gabe der Gnade Gottes ist? Es bleibt mir nur übrig, mit dem Zöllner auszurufen: "Gott sei mir Sünder gnädig!"
Ich nehme Abschied von allen meinen Wohltätern und Wohltäterinnen. Der Herr möge sie segnen und ihnen in der Ewigkeit all das Gute vergelten, das sie mir erwiesen, all die Gefälligkeiten, die sie mir erzeigt haben.
Ich nehme Abschied von allen meinen Freunden und Freundinnen, von allen unseren Nachbarn, ich danke ihnen für alle Aufmerksamkeiten mir gegenüber.
Ich nehme Abschied von allen meinen Neffen und Nichten, ich bitte sie und fordere sie dringend auf, ihr Leben in Jesus Christus zu führen.
Ich nehme Abschied von allen meinen Patenkindern, ich nehme Abschied bis zum großen Wiedersehen, wo ich dann hoffe, sie alle in der seligen Ewigkeit wiederzufinden.
Und ich nehme Abschied von Euch, meine lieben Kinder der Strickschule von Waldersbach und der ganzen Pfarrei. Ich verlasse Euch, doch nur mit meinem Leibe, denn ich werde fortfahren, den lieben Herrn zu bitten, dass er Euch segnen und alle zu sich ziehen wolle. Denkt oft an Eure Louise, die Euch so sehr liebte. Ich werde fortfahren, den Herrn zu bitten, dass er Euch für die Person, die mich ersetzen wird, dieselbe Liebe, dieselbe Achtung und denselben Gehorsam geben möge, die Ihr mir gezeigt habt. Ja, tut das, liebe Kinder, ich werde mich darüber freuen in der Ewigkeit.
Ich sage schlussendlich Lebewohl der ganzen Pfarrei. O dass ich unserem lieben verstorbenen Seelsorger und Vater, wenn ich ihn wiedersehen werde, gute Nachrichten geben könnte von seiner Pfarrei, die seinem Herzen so teuer war. Aber ach! O Herr Jesus Christus, der du gekommen bist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, wollest durch deine Gnade und Barmherzigkeit alle verirrten Schafe unserer Pfarrei zurückführen und die harten Herzen mit ihrer traurigen Leichtfertigkeit und ihrem sorglosen Wesen erweichen durch dein Wort und deine Unterweisungen! Führe zurück zum Leben in dir alle lebendig Toten unserer Pfarrei! Amen. Amen.
Und Ihr, meine lieben Freundinnen und Leiterinnen, indem ich Euch bis zum großen Wiedersehen verlasse, möchte ich Euch bitten, nicht die Geduld zu verlieren; verdoppelt jedoch Mut und Treue, Eifer und Glut des Herzens, diese Jugend für den Weg der Weisheit und der Tugend zu begeistern, diese zarte Jugend zu unserem Herrn zu führen, dem großen Freund der Kinder; bemüht Euch, ihnen die Freude an Fleiß und Treue einzuflößen; sprecht oft mit ihnen von der Gegenwart Gottes, lehrt sie die Liebe zu Gott und dem Nächsten, das Einstehen des einen für den anderen; bringt ihnen die Abscheu bei vor der Lüge, dem Fluchen, dem Ungehorsam, vor jeder Art von Lastern und Übeln. O meine lieben Freundinnen, allen, die zum Unterricht der Jugend berufen sind, hat der Herr eine zwar mühsame, doch ehrenhafte Aufgabe gegeben, Ihr dürft sie erfüllen zu seiner Ehre und seinem Ruhm bis zur Zeit der Ernte."

Frau Louise Scheppler starb am 25. Juli 1837, nachmittags um 5 Uhr. In Aufzeichnungen heißt es, dass sie in den Kleidern beerdigt wurde, die sie seit 1827 zurückgelegt hatte: ein altes gestricktes Jäckchen, eine alte weiße Schürze, ein altes Umschlagtuch, schlechte Strümpfe, alles sehr sauber und sehr gut geflickt, kein Rock. Warum etwas Gutes in die Erde legen, während es viele Bedürftige gibt, denen es zugute kommen könnte? Sie wusste, dass das, was man der Erde anvertraute, nur noch ihre leibliche Hülle war und dass ihre Seele zu Gott käme ...


(c) Abschiedsbrief der Frau Louise Scheppler, 1763-1837