Dienstag, 27. September 2016
Die Hülle welkt, der Kern besteht
Da kam, wie aus klarstem Himmel herab, der Blitzstrahl, der mir den Gemahl raubte und mir damit, wie ich vermeinte, mein Lebensglück für immer zerstörte. Ich war erstarrt, gelähmt. Während der kurzen Krankheit meines Gemahles hatte ich zu Gott gefleht, wie nur je eine Seele zu flehen vermag, den bitteren Kelch an mir vorübergehen zu lassen; aber - und darin bestand meine erste schwere Sünde bei jenem über mich verhängten Geschick - ich hatte nicht, wie der Heiland uns durch sein Beispiel gelehrt, aus tiefster Seele hinzugesetzt: "Nicht wie ich will, sondern wie DU willst!" - Genau genommen war mein Flehen zu Gott die Forderung an ihn gewesen, zu wollen und auszuführen, was ICH wolle. So war schon dieses mein Flehen zu ihm mit Sünde befleckt. Und als Gott nicht getan, was ich gewollt, da verstummten meine Gebete an ihn, ich suchte die Einsamkeit, um mich ungestört mit dem heimgegangenen Gatten zu beschäftigen. All mein Denken und Sinnen war ihm gewidmet; ich redete zu ihm, fest überzeugt, dass es ihm, vermöge höherer ihm verliehener Fähigkeiten, vergönnt sei, meine Worte zu vernehmen; ich gedachte dieser und jeder seiner Äußerungen, namentlich solcher, die sich auf den Glauben an das Fortleben nach dem irdischen Tode bezogen. Ich erinnerte mich eines Spazierganges mit ihm an einem schönen Frühlingsabend. Wir gingen auf einsamem Pfade an Baumgärten vorüber, auf einer Stelle wehte ein Luftzug Blütenblätter auf uns herab. Da sagte er: "Die Hülle, welk geworden, sinkt; der Kern der Blüte, die Frucht, besteht und vermag nun, frei geworden von der Umhüllung, umso kräftiger zu wachsen!" Auch andere Bemerkungen machte er noch. "Lassen wir uns," sagte er, "den Blick nicht durch die mit dem Scheiden unmittelbar verknüpften Umstände trüben, sehen wir vielmehr der Sache auf den Grund, so wird sich uns zunächst die Wahrheit enthüllen, dass der Tod für den Scheidenden kein Übel ist. Wer aus einer unvollkommenen Welt in eine vollkommene übergeht, dem wird offenbar damit nicht etwas Übles, vielmehr etwas Beglückendes zuteil."
Als das, was mein Gemahl an jenem Abend gesagt hatte, mir klar vor der Seele stand, vollzog sich schnell eine große Veränderung in mir. Ich hatte mich mit ihm stets so einig im Glauben, im Lieben und Hoffen gefühlt; - jetzt, indem ich mich seiner Auffassung von der Bedeutung des Todes erinnerte, sah ich diese Einigkeit durch meine Schuld zerstört, sah ihn im erhöhten Glauben an die Liebe des Vaters, mich dagegen im gesunkenen Glauben, ja fast im Zweifel. Es ward mir klar: ich hatte mich in der Prüfung nicht bewährt; meine Gebete zu Gott waren verstummt, das meines Gemahls Seele und meine Seele umschlingende Band, das Vertrauen zu Gott, war gelöst. - Wo ich, wenn auch unter Tränen, hätte preisen und danken sollen, hatte ich mich ungeberdig gegen Gott erwiesen, einem störrischen Kinde gleich, das den Eltern, gegenüber treuester Liebeserweisungen, Widerwilligkeit zeigt, nicht freundlich aufblickt, sondern weinend und grollend schweigt. Das Einzige, das mir in meinem ungebändigten Schmerze Trost gewährt hatte, war der Gedanke gewesen, dass mein Gemahl in meinen Schmerzensäußerungen Zeichen meiner treuen, heißen Liebe zu ihm sehen werde; - jetzt musste ich mir sagen: deine Tränen werden ihm als Zeichen deines Abfalls von Gott gelten; ihr Anblick wird ihn nicht beglücken, vielmehr ihn betrüben! - Ich hatte nun bisweilen die Vorstellung, als schaue er voll Trauer zu mir hernieder, als sähe ich seine Hand weisen nach dem Thron des Höchsten.
In welchen Zustand herben Wehes mich diese Vorstellung und jene Betrachtung versetzten, vermag ich nicht zu schildern. Als mein Gemahl noch lebte, da war ich darauf bedacht gewesen, Unannehmlichkeiten, wie das Leben sie bringt, sorgsam von ihm abzuwenden, oder doch, wenn ich jenes nicht vermochte, ihre Wirkungen nach Kräften zu mildern, und jetzt, nachdem ich ihn verloren und ich mir so oft schon vorgestellt hatte, um wie viel sorgsamer noch ich ihm, wenn er noch lebte, meine Fürsorge widmen würde, - jetzt musste ich mir sagen: Du trübst ihm durch deinen Mangel an Ergebenheit gegen Gott seine Seligkeit! -
Eben so wie mir die Erkenntnis meiner Schuld gegen Gott gekommen war, war es mir klar geworden, dass ich mich gegen meinen heimgegangenen Gatten versündigt hatte, und indem ich darauf durch Reue meine Schuld büßte, zog allmählich der Friede in meine Brust ein.
Nun schlang sich ein neues Band um meines Gemahls und meine Seele, ich fühle mich inniger noch vereint mit ihm, als es vor seinem Heimgange der Fall gewesen war, ich begann darnach zu trachten, mich hier schon in Taten und Gedanken seiner wert zu erweisen.
Aber war ich in seinem und meinem himmlischen Vater nicht viel mehr noch schuldig? Mehr als je begann ich nach Erringung seiner Gnade zu trachten. Wie schwand nun vor meinen Blicken der Verlust hin, gegenüber dem Gewinn, der mir winkte! Eine Spanne Zeit, - denn wahrlich, was sind Jahre, was sind Jahrzehnte gegen die Ewigkeit! - und uns wird ein seliges Wiedersehen als Anfang eines Daseins zuteil, in das irdische Trübungen nicht hineinreichen! -
(Ferdinand Schmidt; aus der Erzählung "Nacht und Morgen")