Samstag, 21. Januar 2023

Betrachtungen vom Tode


1. Erwäge, wie ungewiß der Tag deines Todes sei. O meine Seele, es kommt der Tag, da du aus diesem Leibe ausziehen mußt. Wann wird dieses geschehen, im Sommer oder im Winter? Wenn du in der Stadt oder auf dem Lande bist? Am Tage oder bei Nacht? Wird der Tod dich plötzlich überfallen oder seine Anzeige vorhersenden? Wird er die Folge einer Krankheit oder eines Zufalles sein? Wirst du noch beichten können oder nicht? Wird dein Gewissensrat und geistlicher Vater an deiner Seite stehen oder nicht? Ach, von all diesem wissen wir gar nichts. Nur dieses steht fest: daß wir sterben müssen, und früher, als wir es meinen.

2. Erwäge, daß dann das Ende der Welt, wenigstens für dich, gekommen ist; denn für dich ist sie nicht mehr, und vor deinen Augen wird sie in Trümmer gehen. Ja, und die Vergnügungen, die Eitelkeiten, die weltlichen Freuden, die eitlen Neigungen werden uns dann wie Luft- und Nebelgebilde vorkommen! O Elend ... Und um dieser Nichtswürdigkeiten, um dieser Trugbilder willen habe ich meinen Gott beleidigt. Dann wirst du es erkennen, daß wir Gott um eines Nichts willen verlassen haben. Aber wie werden uns im Gegenteil dann auch die Frömmigkeit, die guten Werke als so wünschenswerte und liebliche Güter erscheinen! O warum bin ich nicht diesem schönen und lieblichen Pfade gefolgt ... In jenem Augenblicke werden die Sünden, die uns nur gering däuchten, zur Bergesgröße anwachsen, deine Frömmigkeit aber wird ins Kleine zusammenschrumpfen.

3. Bedenke den großen und traurigen Abschied, den deine Seele von dieser Welt nehmen wird; sie wird Abschied nehmen von den Reichtümern, von den Eitelkeiten, von den nichtigen Gesellschaften, von den Weltfreuden, vom Zeitvertreib, von Freunden und Nachbarn, von den Eltern, von Gatte und Gattin, kurz von jedem Geschöpfe; und endlich auch von ihrem Körper, den sie erblasst, mißgestaltet und verzerrt, hässlich und im Modergeruch auf Erden zurücklassen wird. 

4. Betrachte die Eilfertigkeit, mit welcher man diesen Leib sodann aufhebt und ihn in den Schoß der Erde birgt; und ist dieses vorbei, dann denkt man nicht mehr an dich, und man wird deiner so wenig gedenken, als du anderer Verstorbener gedachtest. Der Herr schenk ihm die ewige Ruhe, ruft man noch nach, und hiermit ist es aus. O Tod, wie greifst du so rücksichtslos, so gewaltsam ein!

5. Erwäge, daß die Seele, wenn sie den Leib verläßt, den Weg zur Rechten oder zur Linken einschlägt. Ach, welchen Weg wird deine Seele einschlagen? Welchen Pfad wird sie nehmen? Keinen andern, als den sie schon in dieser Welt zu wandeln begonnen hatte.


© Franz von Sales (1567-1622)