Montag, 19. Dezember 2022

Weiter Raum für alle Seelen

 



Emil und Alexis befanden sich in der Nacht allein auf dem Verdeck des Schiffes. Die Luft war labend, des Himmels Sterne funkelten klarer, als ich solches jemals in der Heimat geschaut hatte; Stille herrschte um uns. Sie sprachen dies und das, endlich kamen sie auf den Glauben und die Unsterblichkeit zu sprechen.

Da sagte Emil: "Mit schwerem Herzen gestehe ich Ihnen, daß mein Glaube an die Unsterblichkeit der Seele oftmals schon gewankt hat. Viele Tausende von Jahren besteht schon das Menschengeschlecht, und an jedem Tage sterben Hunderttausende von Menschen. Welche unermeßliche Zahl von Menschen hat schon auf Erden gelebt, welche unermeßliche Zahl wird noch entstehen, leben und sterben! ---- Wo ist, habe ich mich schon oft gefragt, der Raum, der alle diese Menschenseelen bergen soll?"

"Wie viele Sorgen und Mühen", versetzte Alexis, "machen sich doch Menschen, sobald sie es unterlassen, mit kindlichem Sinn auf Gottes Wort zu achten! Lassen Sie uns einmal das genau anschauen, was ihren Zweifel erregte! Sie meinen also, es sei für die unermeßlich große Zahl der Seelen nicht Raum im Weltall. Lassen Sie uns denn einen Blick hinauf tun in die Sternenwelt, in den 'Ozean der Welten', wie ein großer Dichter sagt. 

Denken Sie zunächst an unsere Sonne. Wäre es möglich, daß jemand zur Sonne reisen könnte, so würde er, selbst wenn er täglich einen Weg von tausend Meilen zurückzulegen vermöchte, doch fünfzig und einige Jahre gebrauchen.

Denselben Weg --- gegen 21 Millionen Meilen --- legt der Sonnenstrahl in ---- acht Minuten zurück.

Was sagen Sie nun zu der Entfernung der nächsten Sonne, von der das Licht 9 1/4 Jahre gebraucht, um auf die Erde zu gelangen? Von der darauf folgenden Sonne braucht es 21 Jahre, vom Polarstern 43 Jahre.

Die Entfernung, die der Lichtstrahl in einem Jahre zurücklegt, nennen Astronomen ein Lichtjahr. Die fernsten Lichtnebel bestehen aus Sternen. Sie sollen nach ungefährer Berechnung 80 Millionen Lichtjahre von uns entfernt sein.

Verschwänden diese --- für unsere Beobachtung --- entferntesten Sterne in diesem Augenblicke, so würde dies auf Erden erst in 80 Millionen Jahren wahrgenommen werden können!

Lassen Sie uns weiter gehen, um in uns von der Unermeßlichkeit des Raumes eine Ahnung zu erwecken. Wenden wir unsern Blick nach der Milchstraße. Es ist von Astronomen als unzweifelhaft festgestellt worden, daß sie aus mehreren Ringen von Millionen Sternen besteht. Mit Hilfe der besten Fernrohre hat man etwa 18 Millionen Sonnen herausgebracht. Da es nun noch gegen zwei Millionen vereinzelt stehende Sonnen gibt, so würde sich die Zahl der durch unsere Instrumente erkennbaren Sonnen auf etwa 20 Millionen belaufen. Ermessen Sie nun das Heer von Sternen, da jede Sonne von einer großen Zahl von Sternen umgeben ist.

Endlich erwägen Sie noch dies: Wir haben nicht nur  e i n e  Milchstraße, es sind deren jetzt schon 4023 bekannt. ---

Ist es Ihnen nun noch möglich, im Hinblick auf den unermeßlichen Weltraum und auf das unzählbare Heer der Sterne zu fragen: wo ist der  R a u m  für die von unserer Erde scheidenden Menschenseelen?"


© Ferdinand Schmidt (1816-1890)